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tischen zuschreibt, den „Rituale[n] des Körperschmerzes“327 aussetzt, wird zu
einer Symbiose aus Mensch und Technik, Körper und Geist idealisiert. Gleich-
zeitig bilden sich aber auch erste Ambivalenzen aus. Boxer, denen die Talente zu
Selbst- und Subjektkonstituierung zugestanden werden, opponieren auf anderer
Ebene zugleich gegen die Maßgaben der gesellschaftlichen Moderne; die „Ver-
wissenschaftlichung des Körpers“328 geht mit der „Mystifikation des Körpers
samt seines Erlösungspotenzials“329 Hand in Hand; die boxerische Körperarbeit
ermöglicht „individuelle Erfahrungen, die sich jedem kontrollierenden Zugriff
entziehen“330. Mit Foucaults Konzept der „Technologien des Selbst“331 lässt sich
das Zusammenspiel von Technik, Kraft, Dynamik und Selbstvergewisserung im
Boxen theoretisch fundieren – fern der soeben beschriebenen Verklärungsten-
denzen. Boxen gerät zu einer Schnittstelle maschineller, leistungsabhängiger,
individualistischer, selbstreflexiver und emanzipatorischer Momente. In Über-
wachen und Strafen bemerkt Foucault: „Die am Körper angewendete Disziplin-
artechnik hat zwei Effekte: eine Seele, die zu erkennen, und eine Unterwerfung,
die zu vertiefen ist.“332 Es gelte, so Foucault in dem Essay Warum ich Macht un-
tersuche, den „Kampf für eine neue Subjektivität“333 aufzunehmen: Die erstrebte
Körperbeherrschung wird im Boxen durch „Spezialisierung, Rationalisierung,
Bürokratisierung, Quantifizierung“334 erreicht – die Effekte der dominanten
Macht- und Wissenspraktiken bilden sich am Körper des Boxers ab. Musil wird
in Vorwegnahme dieser zentralen Foucault-Theoreme die körperkulturelle Ver-
suchsanordnung untersuchen und in vielen seiner Schriften am Beispiel des Bo-
xens austesten, inwieweit „Rationalisierung und subjektives Erleben“335 zu ver-
binden sind: Die vorliegende Publikation schlägt deshalb nichts weniger als eine
neue Detaillesart von Musils Monumentalroman Der Mann ohne Eigenschaften
vor. Das durch Körpertechnologie und Kraftästhetisierung geprägte Boxen er-
zeugt letzten Endes Doppeldeutigkeiten: Das Kampf- und Körperverhalten des
Boxers wirkt zuweilen wie Hohn auf die intellektuellen Theoretiker des automa-
tisierten Gesamtkörpers, die im Boxen die Präsentation und metaphorische Ver-
fremdung des Aggressiven und Bedrohlichen begrüßen. Die Gestalt des Boxers
erscheint als eine Art Kippfigur, als ein in summa rätselhaft zusammengesetzter
327 Theweleit 2009, Bd. 2, S. 148
328 Fleig 2008, S. 19
329 Ebd.
330 Ebd., S. 32
331 Foucault 1993, S. 24
332 Foucault 1977a, S. 381
333 Foucault 1987, S. 247
334 Marschik 2009, S. 27
335 Ebd., S. 27 83
Haupt-
und
Nebenschauplätze:
Epochensymptom
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440