Page - 89 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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len‘ von Körper und Geist“373. Die Feststellung, Boxen diene der Lebens- und
Weltbewältigung, erstarrt in den 1920er-Jahren zur festen Formel – ein fernes
Echo davon ist zuweilen heute noch zu vernehmen, wenn es in Zeitungen und
Zeitschriften fast reflexartig heißt, der Sportler habe sich aus der Gosse heraus
im Ring förmlich hochgeboxt. Boxer werden zu Spezialisten des Daseinskampfs
banalisiert: Der „sound of gloves against flesh […] allowed us to control our
own destiny“374. Fritz Kortner ist häufiger Gast am Boxring. Der Sport wird von
Kortner zu einer Metapher für den Lebenskampf erhoben:
Von der sportlichen Faszination abgesehen, fesselte mich der Zweikampf als
Drama. […] Ich war angetan von diesem lebens- und zeitnahen Ausdruck. Hier
wurde, oft nur Minuten während, komprimiert, die Härte des Lebenskampfes de-
monstriert. […] So erbarmungslos, wie die blutüberströmten, blind geschlagenen
und wild gewordenen Kämpfer in den Minuten der Untergangsgefahr und der Ge-
winnchance aufeinander einhämmerten, so blindwütig schien uns der unmensch-
lich gewordene Kampf ums Dasein. Viele fanden das Boxen roh. Wir dachten, das
Leben sei roher geworden. Lebensangst und Gier, durch die Inflation entfesselt,
machten die Menschen zu Schiebern und blutrünstigen Fanatikern.375
Man „boxt sich durch das Leben“376, man ballt angesichts des „Kampfcharak-
ter[s] des Daseins“377 die Fäuste: „Boxen kann für die Aktiven die Bestätigung
oder den Absturz in der Gesellschaft, Geld und Ehre oder aber Bedeutungs-
losigkeit und Elend bedeuten. Der Zuschauer wird somit an Existenzkämpfen
beteiligt und nicht nur an Sieg oder Niederlage.“378 Die Komplikationen und
Klippen der Weimarer Welt, in der die Krise kein Ende nehmen will und das
Leben, so Erich Kästners Fabian, „provisorisch“379 erscheint, werden leichthin
in die symbolische Form eines Boxkampfs mit transparenten Handlungsverläu-
fen von Sieg und Niederlage, Aufstieg und Fall transformiert, mit einem ein-
geschriebenen Rest an Unberechenbarem und spannungsvoller Dramatik. Der
Schriftsteller und Publizist Hans Natonek idealisiert Boxen 1927 im Aufruf
Bruder Boxer gar zu den Grundkräften des Daseins:
373 Junghanns 2001, S. 6; vgl. ebd., S. 9f
374 Sammons 1988, S. 235
375 Kortner 1959, S. 390f
376 Marschik 1999, S. 111
377 Lethen 1994, S. 66
378 Ellwanger 2008, S. 27 (Hervorh. im Orig.)
379 Kästner 1979, S. 47 89
Haupt-
und
Nebenschauplätze:
Epochensymptom
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440