Page - 91 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Sieger. Nichts dergleichen findet man im Leben. Der Besiegte bleibt unbeachtet
seinem Schicksal überlassen.386
Die Niederlage im Ring mündet in den pathetischen Appell, das Leben möge
sich am Boxen ein Beispiel nehmen: „Bruder Boxer, in dem Gefühl, daß die we-
nigsten Menschen im Kampfe so korrekt, anständig und beherrscht sind wie du,
fasse ich – mit einiger Zaghaftigkeit – deine lederne Faust.“387 Entsprechende
Beschwörungsformeln sind bis heute im Umlauf:
Das Publikum, das in die Arenen strömte, erlebte am Ring nichts anderes als ein
Abbild seines eigenen Daseins: der Härte und der Risiken, denen jeder ausgesetzt
war, des Mutes und der Ausdauer, deren es bedurfte, um dieses Dasein durchzuste-
hen, auch seiner Unwägbarkeiten.388
Ist Joachim Fests Beobachtung in Rückblick auf das Berufsboxen zuzustimmen?
Die offene Formel von Boxen als Daseinskampfmetapher besitzt bei genaue-
rer Betrachtung nur begrenzte Gültigkeit. Bevor Faustkampfsportler das durch
strikten boxerischen Komment reglementierte Kampfquadrat betreten, versu-
chen sie sich gegen die Möglichkeiten der Eventualität und Kontingenz psycho-
physisch zu wappnen, gegen jene Formen der Sportniederlage also, die gemeinhin
mit den unvorhersehbaren Wechselfällen und Verwerfungen des Lebensalltags
assoziiert werden. Boxer stellen sich den Herausforderungen und Widrigkeiten
der Realität trainiert und präpariert; schicksalhafter Gewalt begegnen sie mit
Selbstdressur; das Handwerk des Boxens ist das „aktive Gegenteil eines passiven
Schicksalsglaubens“389. Rolf Nürnberg bemerkt in Max Schmeling:
Im Ring gab es Distanz und Seile, im Ring konnte er warten. Nicht so im Leben.
Im Leben war keine Sicherheit, im Leben mußte man immer neue Versuche an-
stellen, im Leben hatte man rücksichtsloser zu sein als zwischen den Seilen.390
In seiner Schrift Sport und Risiko kommentiert der Wiener Schriftsteller Arnolt
Bronnen spitzzüngig, dass selbst der Provinzboxer den Weltmeister besiegen
könne: „Haymann hat gegen Tunney eine Chance, und wenn es auch nur die
386 Natonek 1994, S. 231f
387 Ebd., S. 231
388 Fest 2007, S. 46; vgl. Haerdle 2003, S. 41
389 Binhack 1998, S. 128
390 Nürnberg 1932, S. 58 91
Haupt-
und
Nebenschauplätze:
Epochensymptom
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440