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historischen Wirklichkeit“33 einer „technischen, praktischen, ökonomischen, so-
zialen oder politischen Ordnung“34 zugehören. Nicht eine Seite wird auf Kosten
der anderen profiliert oder negiert; auf die Spitze wird so nur die tendenzielle
Idealisierung und Idolatrie der ohnehin bekannten Boxerprominenz getrieben,
die der trivialliterarischen Inszenierung allein zur möglichst effektvollen nar-
rativen Re-Inszenierung der Phänomene Kampf, Kraft und Körper dient. Die
Figur des Faustkämpfers rückt dabei ins Zentrum kühner Projektionen. „Wurde
nicht zehnmal, tausendmal mehr gedruckt von einem großen Boxer oder ei-
nem Baseballspieler als von den sublimsten Werken des einsamen und erlese-
nen Geistes?“35, fragt Paul Gurk in Berlin. Die Überbetonung des Körperlichen
und Kämpferischen mündet ins Kultische; der nahezu umfassenden Präsenz, die
sich das Boxen erobert, muss man sich fast gewaltsam entziehen. Ein Ingenieur
flüchtet sich vor dem Stimmengewirr und der Hektik urbanen Lebens in Ernst
Kleins Roman Kämpfer in die Abgeschiedenheit eines Etablissements: „Dort
ist alles grell, lärmend, hier alles wie das Souper intime eines Taubstummen-
klubs.“36 Es gebe hier, wird dem Erholungsbedürftigen von den Betreibern ehest
versichert, „keine Nackttänze! Keine nackten Boxer!“37 Boxsport und Boxerfigur
werden zu gesellschaftlichen Leitideen stilisiert, die helfen sollen, die Zeitge-
nossen an die Ambivalenzen und Antagonismen der Moderne anzupassen; die
Figur des Sportlers figuriert in den Unterhaltungsromanen als Projektionsfläche
für schematisierte Identitätskonzeptionen, die von lebenspraktischen, ästheti-
schen und technoiden Normen bestimmt sind: Das seit dem 18. Jahrhundert
gepflegte Ideal der Ganz- und Vollkommenheit weicht dem diffusen Vorstel-
lungsbild vom dynamisierten, methodisch durchtrainierten, die Moderne reprä-
sentierenden Boxsportler.38 Das Motiv von dem gestrauchelten Boxhelden lässt
sich da bestenfalls als eine Folge erzähldramaturgischer Konsequenz und als
temporäre Abtönung eines nahezu normativ positiven Boxerbilds diagnostizie-
ren, dem kein übergeordneter Zweck zugeordnet scheint. Von einer allzu ab-
wertenden Negativstilisierung der Boxer schrecken die Autoren dieser Form des
Erzählens geschlossen zurück: Der Mordanschlag, den der angehende Boxer in
Das Erwachen des Donald Westhof begeht, dient dem Protagonisten geradezu als
Sprungbrett, um ihn in die Sphären des Sports zu befördern.39 Der mit Boxen
immanent verbundene Gedanke des Kriminellen wird diskursiv beispielsweise
33 Foucault 2002, S. 507
34 Foucault 2001, S. 901
35 Gurk 1980, S. 100f
36 Klein 1927, S. 25
37 Ebd.
38 Vgl. Gay 1987, S. 85ff
39 Vgl. Hollaender 1927, S. 235ff 123
Kraft-
und
Körperkulte:
Boxsport-Mode
im
Unterhaltungsroman
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440