Page - 130 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Pròdromos Peter Altenbergs. Ein achtjähriges Mädchen trifft darin während eines
Spaziergangs mit seiner Großmutter auf einen Straßenhändler, der bewegliche
Blechfiguren feilbietet, die in „rasender Geschäftigkeit die Arme schwangen in
Boxerhandschuhen infolge eines geheimnisvollen Mechanismus. Ideale Freit-
urner und Boxer, ohne Unterlass. Merkwürdige Unermüdliche!“101 Die Groß-
mutter weigert sich, ein Blechmännchen zu kaufen, worauf ein Fremder hin-
zutritt, der dem Kind das Spielzeug schenkt. Großmutter und Mädchen sind
überrascht, der Fremde überreicht dem Kind das Boxerfigürchen – das nun auf
einmal als „Hampelmann“102 firmiert. Ein weiteres Beispiel für das Kippen von
Affinität zu Abfuhr liefert Paul Kellers Roman Drei Brüder suchen das Glück, in
dem die Söhne einer Geheimratswitwe während der Inflationszeit ums Überle-
ben kämpfen. Die Erzählung über ein Ereignis in dem Zirkus Löwe und Elefant
G.m. b.H.103 steht auf den ersten Blick so beispielhaft wie plakativ für die Schwie-
rigkeit des Durchhaltens in Krisenzeiten; die Szene verdeutlicht aber auch den
kritiklosen Umgang mit den metaphorischen Möglichkeiten des Boxens; in Drei
Brüder suchen das Glück überschlagen sich die Bilder im Bericht über einen zir-
zensisch inszenierten Boxkampf, den Kurt seinen Brüdern schildert:
Es war großartig! Also stellt euch vor: der schmächtige englische Boxer-Feder-
gewichtsmann, schreitet würdevoll als Löwe in die Arena, in einem löwengelben
Trikot; ihm folgt in elefantengrauem Dreß unser Johann, der Schwergewichtler, in
Schritt, Haltung und Zuschnitt durchaus Elefant. Das Publikum atmet kaum vor
Spannung. Eine halbe Minute lang stehen die beiden Bestien still und stumm sich
gegenüber, sehen sich nur feindlich an. Auf einmal brüllt der Löwe auf, der Ele-
fant stößt als Antwort ein furchtbares Trompeten aus. Das Publikum fiebert. Und
nun geschieht etwas Sensationelles. Der Löwe bückt sich zusammen, macht einen
fabelhaften Sprung von mindestens zwei Metern, sitzt dem Gegner am Halse und
haut ihm die Pranke so an den Schädel, daß dem Elefanten der Rüssel blutet. Wie
aus einer Dachtraufe schießt das Blut. Das war erhaben; das könnt Ihr glauben! Das
Publikum brach in begeisterten Beifall aus. Aber der Elefant hatte den Tatzenhieb
des Löwen übelgenommen, er erfaßt den Gegner, wirft ihn meterhoch über den
Kopf, wendet sich blitzschnell, soweit sich ein Elefant blitzschnell wenden kann,
will den Löwen zerquetschen, wirft sich auf ihn mit seiner ganzen Zentnerlast. Der
Löwe liegt auf dem Bauche. Ihn auf den Rücken zu wälzen, gelingt dem Elefan-
ten nicht. Im Gegenteil! Der Löwe boxt von unten ausgezeichnet. Seitenaufreißer
grandioser Art, vor allen Dingen aber landet er Treffer auf die Rückseite des auf
101 Altenberg 1906, S. 99
102 Ebd.
103 Keller 1929, S. 216
130 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440