Page - 162 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Boxen als ein exotisches Phänomen in der deutschen Provinz anno 1927, in der
die Menschen, bedroht von Inflation und Arbeitslosigkeit, um ihr wirtschaftli-
ches Überleben kämpfen: Vier Männer ziehen in der Notzeit nach dem Ersten
Weltkrieg als Sänger für wenig Geld durch fränkische Dörfer. Die Wandlung der
Susanne Dasseldorf nähert sich Boxen im Rückblick auf die historische Früh-
zeit des Faustkampfs. Zeitgeschichte und Romanhandlung verlaufen parallel:
Nach dem Waffenstillstand von Compiègne rückt die für das rheinlandpfälzi-
sche Koblenz abkommandierte US-Besatzungsarmee Mitte Dezember 1918 in
die Stadt ein8; da die „amerikanische Besetzung nach dem verlorenen Weltkrieg
weder in der allgemeinen Kriegs- und Nachkriegsliteratur noch in der histori-
schen Forschung bisher umfassend dargestellt wurde“9, hält Alexandra Pletten-
berg-Serban fest, entwerfe Die Wandlung der Susanne Dasseldorf eine „einmalige
Perspektive auf die deutsche Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg“10. Im Ro-
man quartieren sich amerikanische Soldaten auf dem GrundstĂĽck der Familie
Dasseldorf ein. Als ehemalige Grund- und Häuserbesitzer sowie Fabrikanten
von Militärzubehör fürchtet die Familie um ihr Vermögen11; den Besatzern be-
gegnet man reserviert bis feindselig: „Die Deutschen, die sich mit den Leuten
abgeben, sollten sich schämen. Wir leben nur im Waffenstillstand mit ihnen.
Und gerade die Amerikaner, die schuld sind, daĂź wir den Krieg verloren ha-
ben!!“12 Boxen nimmt erst gegen Ende des Romans breiten Raum ein. Susanne,
die Tochter des Hauses, liest Sportfachblätter, besucht Boxveranstaltungen und
ist in Peter, den Gärtnersohn und angehenden Boxer, verliebt – verbotenerweise,
da die aufkeimende Beziehung zwischen BĂĽrgerstochter und Arbeitersohn an
StandesdĂĽnkel rĂĽhrt.13
Im Ochsenfurter Männerquartett spielt sich Boxen weitestgehend im Privaten
(und in provinziellem Umfeld) ab, auch wenn die erzählte Zeit des Romans
das Jahr 1927 ist, in dem Boxen in den großstädtischen Zentren längst Teil
der Unterhaltungsindustrie ist. Thomas, der Sohn eines Mitglieds des singenden
Männerquartetts, erhält Besuch von Hanna, in die er verliebt ist:
Als Hanna am Nachmittag in den Garten kam, stand Thomas, bekleidet nur mit
einer weiten, weiĂźen Kniehose und Boxhandschuhen, in einem dieser Zimmer, in
dem sich nichts als ein Sandsack befand, der in der Mitte von der Decke hing. […]
8 Vgl. Plettenberg-Serban, Mettmann 2006, S. 350ff
9 Ebd., S. 511
10 Ebd.
11 Vgl. Breitbach 2006, S. 10f
12 Ebd., S. 215
13 Vgl. ebd., S. 409ff
162 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂĽberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂĽckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440