Page - 204 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
Image of the Page - 204 -
Text of the Page - 204 -
Der von Stereotypisierung möglichst freie Blick auf das Boxen sucht die Stan-
dards der Körpertechnisierung und Knochenarbeit, denen fast schon proteisches
Potenzial zugestanden wird, zu demaskieren. In Wie schreibt man ĂŒber einen Bo-
xer? unterlÀuft Anton Kuh elegant den Zwang zu Selbstformung und Körper-
systematisierung â die WahlsprĂŒche seines Boxers Ferry lauten: ââDös Eigene
muĂ wegtrainiert werden!â und âJeder Mann sei Watschen!ââ279 In SinnsprĂŒchen
dialektalen Einschlags erfahren Menschendurchformung und der ebenso repe-
titive wie reduzierte Charakter der Körperformungsinstrumente bessere Kennt-
lichmachung. In dem Feuilleton Körperliche Erziehung der Frau gibt Joseph Roth
vor, ĂŒber die genannte Tagung aus dem Titel zu informieren. Wie stets, wenn
Roth eine bestimmte Zeitsignatur aufruft, erlĂ€utert und erweitert â letztlich
kommentiert und ironisiert er diskursive ZusammenhĂ€nge. âAm ersten Tag
sprach FrĂ€ulein Dr. Gertrud BĂ€umer den einfĂŒhrenden Vortrag. Es war nicht nur
der erste, es war auch der bedeutendste Vortragâ280, moderiert Roth sein Zei-
tungsstĂŒck ein. âDr. BĂ€umer sprach von den innigen Beziehungen, die zwischen
der Harmonie eines ausgebildeten Körpers und der geistigen LeistungsfÀhigkeit
bestehenâ281, fĂ€hrt der Autor fort und pointiert und kritisiert die vollends zum
wertvollen Gut und Wissen hochstilisierten BanalitÀten und Alltagsformen der
Trainingspraxis, indem er gÀngige Körperformungsprogramme generös zitiert:
âDie Erziehung des Körpers zur âGesetzlichkeitâ bedeute das Wecken des âPer-
sönlichkeitsbewuĂtseinsâ. Das Training des Körpers bewirke den Stolz auf die-
sen Körper. Je mehr man sich um die Bildung des Körpers bemĂŒhe, desto wert-
voller erscheine er.â282 Mit Dr. BĂ€umers Worten setzt die satirische EnthĂŒllung
ein. Roths ErzÀhlperspektive entspricht auch in dem Text Training der eines
zwischen neusachlicher Recherche und feinem Spott schwankenden Berichter-
statters aus dem Trainingssaal:
Man sieht also zum Beispiel ein Zweirad, das fix und ewig im Boden wurzelt, als
wĂŒchse es mit Schraubenfasern aus dem Dielenbrett. Es ist ein lustiges Zweirad,
es bewegt sich nicht, man kann auf ihm tausend Meilen gewissermaĂen zurĂŒck-
sitzen, unermĂŒdlich die Pedale drehen und in einer Stunde fĂŒnfhundert Kilometer
FuĂmuskelertĂŒchtigung gewinnen. Indes darf die Phantasie ĂŒber Land und Meer
ungehindert schweifen.283
279 Kuh 1963, S. 73
280 Roth 1990b, S. 370 (Hervorh. im Orig.)
281 Ebd.
282 Ebd.
283 Roth 1989c, S. 770
204 | Teilï»ż
II.ï»ż
Imï»ż
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂŒberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂŒckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und NebenschauplÀtze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten ErzÀhlliteratur 160
- âZeitfigurâ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440