Page - 209 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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zeitigen unmittelbar Folgen: „Und es ist rührend zu sehen, wie der Bärenstarke,
Mythushafte sich, wenn ihn ein Getränk stärker angreift, widerstandslos ins Bett
gleiten läßt.“312 Das Training folgt auch bei Anton Kuh exakt ausgearbeiteten
Plänen, die dem Boxer ja nicht zu viel zumuten: „Schlagen, Schmieren, Punkt-
rollen und bei beginnender Ermüdung oder Schläfrigkeit: Mensendieck.“313 Der
Rigorismus und die Unvernunft des Boxtrainings, das archaischen Mustern ver-
pflichtet scheint, werden endlich von Franz Blei in Bildnis eines Boxers offengelegt:
„Der Bub bestrich seine Muskeln mit Talk, um sie geschmeidig zu machen, ließ
bei fünfzehn unter Null das Fenster offen, um in frischer Luft zu schlafen.“314
Entfaltung der Trainingskultur: Walter Serners Handbrevier für Hochstapler
Als besonderen Gärstoff wirft der Schriftsteller Walter Serner seine Denkübun-
gen zu Training und Lebenskunst in die „brodelnden Kessel“315 des Zeitgeists:
Serner vollzieht im Schatten des Boxens die für die Moderne charakteristische
Amalgamierung und Dynamisierung von Kulturpraxis und Diskursebene – wäh-
rend diese von der Erzählliteratur eher problematisiert werden. Sein in Abschnit-
ten zusammengestelltes Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wol-
len, die von Spott durchzogene Verhaltenslehre für den amoralischen Moralisten,
erscheint erstmals 1920 unter dem Titel Letzte Lockerung manifest dada.316 Fast
60 der knapp 600 Paragrafen widmen sich in diesen „Szenarien der Gangster-
welt“317 dem „Training“318. Serner nimmt in Letzte Lockerung sowohl einzelne
Überlegungen Nietzsches auf, des Künders von Willensstärke und Wehrhaftig-
keit, als auch bestimmte Ideenfolgen zu Physiologie und Psychologie, um so den
projektierten Theorieüberbau seines Kompendiums wie das „virile Genre“319 der
Verhaltenslehren im Allgemeinen listig umzuwerten: Der idealisierten Sicht auf
das Training des „funktionalen“320 Ichs, dem die nahezu inflationär kursierenden
Boxpraxisanleitungen, offen wie verdeckt, ausgewählte „Techniken der Mimi-
kry an die gewalttätige Welt“321 empfehlen, setzt Serner in Letzte Lockerung sein
312 Ebd.
313 Ebd.
314 Blei 1994, S. 18f
315 Peschken-Eilsberger 1990, S. 37
316 Vgl. Serner 2007, S. 287f; 1927 erscheint die Neufassung unter dem bis heute gebräuchlichen
Titel Letzte Lockerung. Ein Handbuch für Hochstapler und solche, die es werden wollen
317 Lethen 1994, S. 75
318 So die Überschrift von Kapitel VI, vgl. Serner 2007, S. 177
319 Lethen 1994, S. 14
320 Ebd., S. 36
321 Ebd. 209
Box-Demontage:
Faustkampf
in
der
elaborierten
Erzählliteratur |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440