Page - 217 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Bestenfalls nehmen die Autoren der gehobenen Erzählliteratur auch die Licht-
und Lärmtopographien als extreme Ausprägungen eines diskursübergreifenden
Geschehens in kritischer Musterung ins Visier. Der Beginn des Boxabends ist
vom Bedürfnis nach Barbarei und Blutrausch bestimmt: „Hausfrauen, die ihre
Neugierde, ihren Sensationstrieb hinter dem Bequemlichkeitsmäntelchen der
Humanität“368 zu verbergen suchen, finden sich in Emil Faktors Text Kräftespiel
am Ring ebenso ein wie die „Leisen und die Lauten, die Stammgäste und die
Zufallsbesucher, die Kenner und die Neulinge, die Enthusiasten und die Skepti-
ker“369; nach Ertönen des Gongs werden die „verheuchelten Anwälte einer hieb-
los freundlichen Umwelt merkwürdig schweigsam“370: „Gebannt, gespannt, mit
den Augen, mit allen Nerven“371 konzentriert sich das Publikum auf das von
Seilen umspannte Geviert. Auf den ersten Blick sind die Akzentverschiebun-
gen innerhalb der boxliterarischen Topographien ersichtlich; die „unerhört weiße
Lichtflut“372 der Lichtanlage wirft auf die Boxer ein buchstäblich schlechtes
Licht: „Die Scheinwerfer verursachen einen grauenhaften Tag ohne Schatten-
möglichkeit, weil ihr Licht von allen Seiten gleichmäßig kommt.“373 In Joseph
Roths Feuilleton Der Kampf um die Meisterschaft distanziert sich der Blick auf die
Licht- und Lärmregien, durch die alle Beteiligten am Boxen demaskiert schei-
nen: „Die viereckige Arena schwamm in weißem Scheinwerferlicht, das die Un-
heimlichkeit eines toten Weiß hat, an weiße Sterbelaken erinnernd.“374 Der Ring
mutiert gezielt zum Richtplatz: „Es ist eine unbarmherzig weiße Farbe, die schon
aus visuellen Kontrastgründen allein nach rotem Blute schreit.“375 Die Grellheit
des Lichts entstellt das Boxen auch in Die große Sache zur Verständlichkeit:
In den Ring stieg ein Riese. Unter dem weißen Licht wuchs er zu furchtbaren
Massen. Sein Chefsekundant nahm ihm sogleich den Mantel ab. Langsam drehte
er sich und zeigte der Menge seine Muskeln. […] Übrigens hatte er ein Gesicht
wie ein Stück Vieh, jetzt in der Ruhe wirkte es noch gutmütig. Als er seinen Geg-
ner erblickte, fletschte er die Zähne.376
Was ein Autor, der nicht allein jene Interferenzzonen ausloten möchte, in de-
nen sich Boxen mit dem Modischen und Konventionellen trifft, den Licht-,
368 Faktor 1994, S. 227
369 Ebd.
370 Ebd.
371 Ebd.
372 Roth 1989b, S. 999
373 Ebd.
374 Roth 1990d, S. 73
375 Ebd.
376 Mann 1972, S. 144 217
Box-Demontage:
Faustkampf
in
der
elaborierten
Erzählliteratur |
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440