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tausch in Szene“414 setzt, zeugen weniger von Kraft und Kampf, den herkömmli-
chen Attributen des Boxens, sondern von den möglicherweise fatalen Folgen des
sportlichen Streits: Das Knock-out folgt bei Ringelnatz der eigensinnigen Lo-
gik des Delirierens; dem faustkämpferischen Furor und der Gravität sportlicher
Gegnerschaft wird, sprachlich und formal gewitzt, der Rest gegeben. Die 1923
von Ringelnatz vorgenommene Adaption von Box-Kampf liefert ein weiteres
Indiz fĂĽr die These, dass in Boxkampf (so der Titel der Version von 1923) die Ă„s-
thetisierung des Boxens in Brutalität und Bewusstseinstrübung umschlägt. Der
gewissermaßen unmögliche Traum des tödlich verletzten Boxers Kock endet in
der Version von 1923 mit dem Wort „Boxbeutel“415, das lautmalerisch verwandt
scheint zum Bocksbeutel, der traditionellen Flaschenform fĂĽr Alkoholika. Mit
dem subversiven Blick des Satirikers demonstriert Ringelnatz zugleich die Bru-
talität und Banalität des Boxens; in Box-Kampf/Boxkampf scheint nicht wenig
psychologisches Wissen über das Faustkämpfen inkorporiert.
Boxsurrealismus in Kurt Schwitters’ Merfüsermär
Auf Surreales und Bizarres, das sich aus der Aufladung des Alltags mit Boxsport-
lichem heraus entfaltet, zielt auch Kurt Schwitters in der Erzählung Merfüser-
mär, in der ein „kleines armes Kind namens Hertha aus der Stadt Wien“416 in die
Nähe einer Märchenfigur gerückt wird. Die von Leo Kreutzer in dem Aufsatz
Das geniale Rennpferd getroffene Beobachtung, bei Ringelnatz’ Poem Box-Kampf
handle es sich um eine „ungemein einleuchtende Verbindung von Boxkampf und
Dadaismus“417, die in der Geschichte der „Beziehung zwischen Sport und Lite-
ratur leider episodisch“418 geblieben sei, lässt sich nach der Lektüre von Merfü-
sermär nicht länger aufrechterhalten. Hertha erhält in Merfüsermär ein „Ei vom
alten Hahnepeter“419, das sie ihrer Armut wegen ausbrüten muss; 13 Tage und
Nächte lang wärmt sie es in Händen; nach dieser Frist nimmt das Ovum die
Form eines „Trianeders“420 an. Der Erzähler wendet sich wie zur Bekräftigung
an die Leser: „Ihr könnt alle Lexika durchblättern, Ihr findet nicht einmal den
Namen eines Trianeders dort verzeichnet, denn es ist ein Vehikel, wie es nur in
414 Görtz 1996, S. 348
415 Ringelnatz 1983, S. 39
416 Schwitters 1998, S. 140
417 Kreutzer 1970, S. 565
418 Ebd., S. 566
419 Schwitters 1998, S. 140; 1924 publiziert Schwitters das von der Malerin Kate Steinitz illustrierte
Kinderbuch Der Hahnepeter, vgl. NĂĽndel 1981, S. 76
420 Schwitters 1998, S. 140
224 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂĽberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂĽckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440