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mittelt keine spezifischen „Lebenstechniken“250 mehr. Die Sportlerbiografie
des Lebenslauf, in Fortsetzung zuerst in Scherls Magazin und ab Oktober 1926 in
der Berliner Sportzeitung Die Arena veröffentlicht251, wartet nur bei flüchtigem
Hinsehen mit spezifischen Motiven, Themen und Signalworten auf, die eine
durch Boxen konventionell modellierte Vita präfigurieren: Großstadtleben, Kri-
minalität, Alkoholismus, existenzielle Unsicherheit, Unstetigkeit.252 Der Text
gibt sich indes weder den „Anschein eines autobiografischen Bekenntnisses“253
noch jenen einer boxsportlichen Beichte. Samson-Körner berichtet in leicht re-
konstruierbarer Chronologie und mit Hilfe von schnell lokalisierbaren Anknüp-
fungspunkten aus seinem Leben: vom Heranwachsen im sächsischen Zwickau
nahe Dresden über seine Aufenthalte in diversen europäischen und transkon-
tinentalen Metropolen – eine Sonderrolle kommt dabei der Stadt „Beaver im
Staate Utah, U.S.A.“254 zu, im „Mormonendistrikt, fast am Großen Salzsee“255
gelegen, ein Provinzort, der von Samson-Körner zur Stätte seiner Wiedergeburt
als Boxer erkoren wird und damit so etwas wie einen narrativen Ausgangspunkt
darstellt.256 Die Reihe abenteuerlicher Auftritte bricht im Lebenslauf jedoch in
dem Moment ab, als Samson-Körner vom „Neger Kongo“257 zum ersten Mal
Boxunterricht erhält; die Boxlektion wird von Brecht nicht näher erläutert. Die
diskursive Gewichtung von Kampf und Konfrontation – und damit Lebens-
250 Foucault 2005, S. 505
251 Klaus-Detlef Müller ordnet die zeitliche und mediale Reihenfolge des Erscheinens von Brechts
Lebenslauf mit Zeichnungen von Otto Schmalhausen folgendermaßen: ab Januar/Februar 1926
in Fortsetzungen in Scherls Magazin (Berlin) und Die Arena (Berlin), Oktober/November/De-
zember 1926 und Januar 1927, vgl. Müller 1980, S. 75; vgl. auch Knopf 1996b, S. 247; Müller
erklärt den Fragmentcharakter des Lebenslaufs mit dem Umstand, dass dem Autor zur finalen
Durchführung „Zeit und Geduld“ (Müller 1980, S. 18) fehlten; auch ließen es, dokumentiert
Wolfgang Jeske, die durch Brechts Befragung Samson-Körners in Erfahrung gebrachten „Hin-
tergründe“ nicht zu, dass dieser „Stoff in einer Biografie auf [Paul Samson-Körner] ‚zugeschnit-
ten‘ wird“, vgl. Jeske 1984, S. 85; Brecht sei zu einem frühen Zeitpunkt die „Komplexität des
Themas deutlich geworden“ (ebd.), und „wohl aus Zeitgründen bzw. Körners Karriereknick 1927
bleibt der Text Fragment“ (Sicks 2004, S. 380); Knud Kohr und Martin Krauß gehen wie Günter
Berg und Kai Marcel Sicks (vgl. Berg 1995, S. 142f u. Sicks 2004, S. 380) fälschlicherweise von
einem ausnahmslosen Erscheinen des Lebenslaufs in Die Arena aus (vgl. Kohr, Krauß 2000, S.
54), wobei Kohr/Krauß darüber hinaus anmerken, dass Samson-Körner als Redaktionsmitglied
des Berliner Sportblatts geführt wurde und der Boxer zusammen mit Brecht, Arena-Redakteur
Franz Höllering und John Heartfield in der Jury eines Lesewettbewerbs saß.
252 Vgl. Brecht 1997b, S. 218–235
253 Sicks 2004, S. 381
254 Brecht 1997b, S. 216
255 Jeske 1984, S. 85
256 Vgl. ebd., S. 234
257 Ebd.
270 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440