Page - 275 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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Nach dem „Großkampfabend im Sportpalast“289 treffen sich in Der Kinnha-
ken vier Zuschauer, „immer noch in relativ blutrünstiger Stimmung“290, zum
Biertrinken, darunter der Erzähler und ein „Professionalboxer“291, der den drei
Boxsportfans, die ohne soziale Distinktionsmerkmale ausgestattet sind, die
„lehrreiche Geschichte vom Untergang Freddy Meinkes, des ,Kinnhaken‘“292 er-
zählt, die wiederum von dem anwesenden Erzähler weiterberichtet wird. Brecht
wählt einen im Text präsenten, zugleich aber kaum je in Erscheinung tretenden
Erzähler, der dem übergeordneten Berichterstatter der Meinkes-Episode, dem
ehemaligen Boxprofi, „heftig schielend und mit einem Ellenbogen in einer Bier-
lache ausruhend“293, gebannt lauscht – und in die lose gereihten Ereignisse der
Erzählung förmlich eingeflochten scheint. Nicht nur die Kerle am Wirtshaus-
tisch sind angetrunken; Brecht lässt auch die unterschiedlichen Erzählebenen
des Textes geradezu ins Rutschen geraten. Der Boxsportkenner Brecht weiß nur
zu gut, dass Boxergeschichten meistens Individualgeschichten sind, die kollek-
tives Partizipieren hervorrufen. Meinke wird von Brecht deshalb auch nicht als
eine Art brutal-vitalistischer Bevollmächtigter des boxsportlichen Proletariats
typisiert – Meinkes sportlicher Entwicklungsprozess wird im Gegenteil als neue
soziale Aufstiegsmöglichkeit konstatiert: „Freddy stand vor zwei Jahren vor der
Chance seines Lebens“294, resümiert der Erzähler die Boxer-Vita und hebt
sogleich die gängige Form der Boxer-Lebensbeschreibung auf eine allgemein
aufschlüsselnd-strukturelle Ebene, von, wie bereits zitiert, jedwedem empha-
tischen Boxsportbeiklang bereinigt: „Freddy hieß natürlich Friedrich. Aber er
war ein halbes Jahr drüben [in Amerika] gewesen […]. Er boxte […] einige
Monate in kleineren Städten wie Köln und so in der Provinz herum, und dann
hieß er plötzlich ,der Kinnhaken’.“295 Jene Erklärungsansätze, die darauf abzie-
len, Meinkes Verhalten als Verstoß gegen dessen eigene „sportphilosophische
Grundsätze“296 auszulegen, verkürzen die Handlungsweise des Boxers deshalb
auch auf eine vielleicht zu einfache Formal: Meinke nütze, so die Begründung
von Alexander Extra in Sport in deutscher Kurzprosa des zwanzigsten Jahrhun-
derts, Boxen als ein „Mittel zum Zweck“297 zur „Finanzierung für ein bürgerli-
289 Brecht 1997a, S. 205
290 Ebd.
291 Ebd.
292 Ebd.
293 Brecht 1997a, S. 205
294 Ebd., S. 205f
295 Ebd., S. 205f
296 Extra 2006, S. 196
297 Ebd. 275
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440