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mern der Weimarer Lebenswirklichkeit bietet Boxen keinen Halt mehr. Ge-
orge Carrare unterliegt im Weltmeisterschaftskampf seinem Widersacher – und
empfindet dabei nichts als Freude:
George geht erleichtert in seine Niederlage. Eine Stunde später liegt George Car-
rare, drei Pfund Mullbinden um den Kopf, aber ein Zigarre in dem zerschlagenen
Gebiß, und fröhlich wie ein Kind, daß alles vorüber ist, in einer kleinen Box unter
der 30 000-Menschen-Arena: der Krampf fällt von ihm ab, er kann nicht mehr
gezwungen werden, der größte Boxer der Welt zu sein.507
8.
Suche
nach
dem
„point
of
Unkenntlichkeit“
Durch die Austauschprozesse und Analogschaltungen unterschiedlicher dis-
kursiver Bereiche avanciert Boxen zu einem möglichen neuen Ausgangspunkt
von Brechts Dramentheorie – Boxen dient Brecht, wie dargestellt, nicht nur als
„ultimate model for his epic theatre“508. Der Grenzverlauf zwischen Theater und
Boxen, der nach Brecht zeitgemäßen und weitaus populäreren Unterhaltungs-
form, wird hinterfragt. Der „Zuschauer sollte im Theater genauso viel Spaß ha-
ben wie im Zirkus“509. Die Spektakelkultur des Boxens schließt sich bei Brecht
mit naheliegenden Anordnungen kurz – jenen des Alltagskulturellen, Ökono-
mischen, Leibseelischen. In Brechts literarischem Boxsportensemble sind zu-
dem zahlreiche diskursive Doppelungen und Verkoppelungen feststellbar: Das
Boxpublikum soll etwa am Geschehen im Ring aktiv partizipieren, emotionale
Anteilnahme zeigen – und die aufblitzenden Identifikationswünsche mit den
Akteuren im Ring zugleich boykottieren510, mit dem Ziel, den motivischen
„point of Unkenntlichkeit“511 des boxsportlichen Gefechts aufzuspüren: Boxen
weist über das eigentliche Ringgeschehen hinaus. Brecht fordert dazu nach-
gerade auf – weil er dem Boxen mehr abgewinnt, als diesem Sport gemeinhin
zugestanden wird. Dem Stück Im Dickicht der Städte stellt er Mitte der 1920er-
Jahre noch den invers intendierten Vorspruch voran:
Sie befinden sich im Jahre 1912 in der Stadt Chicago. Sie betrachten den uner-
klärlichen Ringkampf zweier Menschen und Sie wohnen dem Untergang einer
507 Brecht 1989a, S. 426
508 Bathrick 1990, S. 132
509 Peschken-Eilsberger 1990, S. 106
510 Vgl. Gamper 1999, S. 157
511 Shaw 1971, S. 96 (Hervorh. im Orig.) 301
„Zeitfigur“
im
Ring:
Brechts
Diskurserweiterungen
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440