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ineinander verhakt worden seien78 – wobei es sich in weiterer Folge um kein
„Missgeschick oder Unvermögen“79 Musils handle, dass sich die „einzelnen
Handlungsfäden“80 nicht zum Ganzen eines abgeschlossenen Romans fügen
wollen. In seiner Bestandsaufnahme des speziellen sportiven Lebensgefühls wi-
derspricht Musil daher der bürgerlichen Vorstellungswelt, die davon ausgeht,
das Erleben des Sports vollständig kontrollieren zu können. In Kunst und Moral
des Crawlens kontert der Autor:
Im Sport die Ausbildung höherer moralischer und intellektueller Fähigkeiten zu
suchen, kommt von jener veralteten Psychologie, die geglaubt hat, das Tier sei ent-
weder eine Maschine, oder es müsse, wenn es eine Wurst sehe, einen Syllogismus
von der Art bauen: das ist eine Wurst, alle Würste sind wohlschmeckend, also
werde ich jetzt diese Wurst essen.81
Bei Musil erscheint Sport als ein ideales Spannungsfeld von Affirmation und
Differenzierung, Individualisierung und Normierung, Körperlichkeit und
leibseelischer Verschmolzenheit. Einerseits ist Musil von der Möglichkeit des
Sports, an Grenzen menschlicher Selbsthingabe und physischer Selbstkonsti-
tution zu operieren, staunend fasziniert; andererseits konzediert er dem ath-
letischen Aktivismus im Mann ohne Eigenschaften einen „Hang zur Allegorie,
wenn man darunter eine geistige Beziehung versteht, wo alles mehr bedeutet,
als ihm redlich zukommt“82. Musil macht mit Nachdruck darauf aufmerksam,
dass der Geist des Sports, der sich in unterschiedlichen psychischen, physischen,
ökonomischen, biologischen und institutionellen Theorie- und Praxiskontexten
eingruppiert, eine „spezifische Form von Wissen“83 produziere, welche die hob-
bymäßig wie professionell befolgte Körperathletik zu einer „gesellschaftlichen,
politischen und ökonomischen Macht“84 werden lasse.
Musils weit reichende Durchmusterung des Sports tendiert aber gleichzeitig
keineswegs dazu, dem Massenphänomen die Maske eines „große[n] Usurpa-
tor[s]“85 überzustülpen – und das Weimarer Sportethos damit jenen bürgerlichen
Moralvorstellungen zuzuschreiben, die für die Ausbildung höherer intellektueller
und sittlicher Fähigkeiten verantwortlich gemacht werden. „Suchen Sie auf kei-
78 Vgl. ebd., S. 119f u. 290ff
79 Hoffmann 1997, S. 230
80 Ebd.
81 Musil 1978g, S. 698
82 Musil 1989a, S. 407
83 Fleig 2008, S. 146
84 Ebd.
85 Müller 2004, S. 127
314 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440