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nen Fall im Sport das Hohe, sondern nimmer [sic] nur das Niedere!“86, belegt
Musil in dem Essay Kunst und Moral des Crawlens mögliche Ideologisierungs-
und Vereinnahmungsversuche sportlicher Werte noch 1932 mit distanzierender
Sprechweise: „Wir hören es nie anders, als daß der Sport menschlich erziehe,
worunter ungefähr verstanden wird, daß er seinen Jüngern allerhand hohe Tu-
genden, wie Freimut, Verträglichkeit, Redlichkeit, Geistesgegenwart, klares und
schnelles Denken verleihe.“87 Es scheint kein Zufall, dass Kunst und Moral des
Crawlens als fiktiver Briefwechsel zwischen einem 19-Jährigen und dem Ich-Er-
zähler inszeniert ist88: Musil durchkreuzt den Sportdiskurs, indem er die Wei-
marer Dauersportrede auf eine private Briefkorrespondenz verkleinert, in der die
Schreibpartner dem „Niederen“ des Sports huldigen. Musil erweist sich als ein
unsicherer Kantonist des Sportkults. Er schlägt dem Modephänomen gegenüber
weder den resignierenden Ton der Ablehnung noch jenen der Athletik-Hymnik
an; angesichts der „Wirrsal des Lebens“89 und des „Gespenstische[n] des Gesche-
hens“90 versucht sich Musil mit diskursiver Ordnung und Orientierung zu rüsten.
2.
Grenzziehungen:
Musils
Prosanetz
Um „sinnliches Erleben und Kritik, Narration und Reflexion“91 als Illustration
einer modernen Art des Erzählens zu binden, fügt Musil dem Boxen – gerade im
Rahmen einer von Foucault angeregten Literaturanalyse – neue Akzentuierun-
gen und Modifikationen hinzu. In den fiktionalen und essayistischen Texten des
Schriftstellers scheint der Bildbereich nahezu unbegrenzt offen für die Besetzung
mit Bedeutung; die theoretischen Beschreibungsmodelle des Boxens unterzieht
Musil ebenso differenzierter Erweiterung, wie er die praktische Erprobung des
Boxens in Form der Synthese jener diskursiven Knoten forciert, die sich in den
1920er- und 1930er-Jahren vor dem Hintergrund von Sportboom, Athletenver-
ehrung, Kampf-, Trainings- und Körpertechnisierung ausbilden. Das Geflecht
von Diskursen und Praxen, die sich um das Boxen bilden, untersucht er im Rah-
men seines „Projekt[s] einer ganzheitlichen Existenz“92 in deutlich geweitetem
Analyserahmen. Dem literarisierten Boxen gewinnt Musil dabei nicht nur neue
synästhetische Qualitäten ab; er erweitert das Bedeutungsfeld Boxen um das Ne-
86 Musil 1978g, S. 698
87 Ebd.
88 Vgl. ebd., S. 694
89 Musil 1978c, S. 1271
90 Fontana 1983, S. 381
91 Fleig 2008, S. 317
92 Junghanns 2001, S. 16f 315
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440