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Gummisohlen, und ob Mama außerdem noch ein Korsett zu tragen hätte, das bis
an die Achselhöhlen reichte, oder sich mit einem kürzeren begnügen dürfte, war
damals eine umstrittene Frage.148
Gegen das flotte Sport-Getöse der Epoche versucht sich Musil zu immuni-
sieren, indem er seine Gedankenfolgen an ein historisches Moment bindet; es
gibt nicht viele Autoren in dieser Zeit, die Sport historisch beschreiben – und
damit rückwärtsgewandt argumentieren; der Neuheitsanspruch darf nicht ange-
kratzt werden. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert, stellt Musil in Als Papa Ten-
nis lernte weiter fest, sei die „Kavalierskunst“149 des Fechtens mit der Tatsache
konfrontiert gewesen, dass den Traditionssport „die Seele seiner Seele mit Bo-
xern“150 verlassen habe. Zur Illustration des sportiven Sogs der Zwischenkriegs-
zeit wählt der Verfasser auch in Randglossen zu Tennisplätzen einen historischen
Orientierungspunkt:
Das waren solide Leinen- oder Flanellröcke, die weit unter die Knie, bis unter
die Hälfte der Wade reichten und durch viele Plisseefalten noch undurchsichtiger
wurden, als es schon ihrem soliden Stoff entsprach, und die Ärmel waren zwar an
den Schultern weggeschnitten, aber so dezent, daß man selbst beim Service nicht
die Haare unter den Achseln sah.151
In der Erzählung Der Riese Agoag historisiert Musil vordergründig die Boxmode
letzten Endes bis ins Mittelalter zurück – und analysiert vor dem Hintergrund
irrationaler historischer Mystizismen, die der Autor listig mit den Moden seiner
Zeit verschaltet, die Konsequenzen der Vermengung ökonomischen, sozialen
und symbolischen Kapitals:
Und was ist es, dachte unser Mann, in seinem neuen Gedankenkreis thronend,
mit allen den Edelleuten des Sports, welche die Könige des Boxens, Laufens und
Schwimmens als Höflinge umgeben, vom Manager und Trainer bis zum Mann, der
die blutigen Eimer wegträgt oder den Bademantel um die Schultern legt; verdan-
ken diese zeitgenössischen Nachfolger der alten Truchsessen und Mundschenken
ihre persönliche Würde ihrer eigenen oder den Strahlen einer fremden Kraft? Man
sieht, er hatte sich durch einen Unfall vergeistigt.152
148 Musil 1978h, S. 685f
149 Ebd., S. 68
150 Ebd.
151 Musil 1978f, S. 795
152 Musil 1978a, S. 533
322 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440