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hen im Gegenteil aus „verschiedenen Perspektiven“216 wahr – und nicht allein
als ein staunender Besucher im Schatten gigantischer Stadien. In der Frühzeit
also, als man noch nicht in Kenntnis darüber war, dass auf europäischen Tennis-
plätzen kein Gras gedeiht, behandelte man es
vergeblich mit der Sorgfalt eines Friseurs, der an einem an Haarausfall leidenden
Kunden all seine Mittel versucht. Aber man konnte auf solchen Grasplätzen bei
Turnieren unerwartete Erfolge erzielen, wenn der Ball zufällig auf einen Maul-
wurfshügel fiel oder der Gegner über ein Grasbüschel. Leider hat man diese ro-
mantischen Tenniswiesen bald aufgegeben und den modernen Hartplatz geschaf-
fen, wodurch ein ernster Zug in den Sport kam.217
Den baulich-petrifizierten Formen der Sportstätten und Arenen, die aufgrund
ihrer „Dimensionierung wie Bedeutung den Kirchen, Theatern und öffentlichen
Gebäuden den Rang“218 ablaufen, widmet sich Musil auf indirektem Weg, in
Form der Verschränkung von architektonischen, lebensweltlichen und naturbe-
grifflichen Diskursen, die „neue Erkenntnisgegenstände“219 etablieren; der Au-
tor stellt die Fakten des sportiven Spektakelcharakters aber nicht allein additiv
aus, ohne deren soziale und ökonomische Zusammenhänge sichtbar werden zu
lassen. Die zunehmende Verdrängung der Naturfläche des Wiener Praters durch
die in Stahl und Beton gegossenen Beweise kollektivsportlicher Besessenheit
wird für Musil in Als Papa Tennis lernte zu einem Sinnbild der „Zivilisierung der
Landschaft“220. An die Stelle des Praters
sind Sportplätze verschiedenster Art getreten, die von Zäunen und Eintritts-
schranken umgeben sind, und es ist das gerade so, wie es sein mußte, denn man
hätte dafür weit geeignetere Gegenden finden können, aber keine so vornehmen,
keine solchen Siegesplätze über die Natur, nichts, wo sich der lächerliche Anspruch
der Leibesübungen, eine Erneuerung des Menschen zu sein, so naiv, so protzig, so
instinktsicher ausdrücken könnte wie in diesem Zusammenhang.221
Der durchorganisierten Leibesertüchtigung, die in den Bauten der großen
Sportstätten ihre manifest-bauliche Symbolisierung findet, erteilt Musil ebenso
216 Fleig 2005, S. 93
217 Musil 1978h, S. 686
218 Marschik 2008, S. 131
219 Foucault 1977a, S. 263
220 Fleig 2005, S. 81ff
221 Musil 1978h, S. 688 329
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440