Page - 331 - in FAUST UND GEIST - Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
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eine Bühnenattrappe kippen. Das Phänomen der Publikumsberauschung un-
tersucht der Autor in erweiterter Versuchsanordnung, in die mögliche Umge-
bungsdiskurse einbezogen werden. In Als Papa Tennis lernte fährt Musil deshalb
fort:
Jahrelang haben sich in England Männer vor einem kleinen Kreis von Liebhabern
mit der nackten Faust Knochen gebrochen, aber das war so lange kein Sport, bis
der Boxhandschuh erfunden worden ist, der es gestattete, dieses Schauspiel bis auf
fünfzehn Runden zu verlängern und dadurch marktfähig zu gestalten.232
Musils Texte zum Boxen lassen sich nicht auf ihre reine Abbildfunktion reduzie-
ren; die einzelnen Teile im engmaschigen Prosanetz kommentieren und ergänzen
sich wechselseitig. Nicht allein das Zusehen macht den Sport also, wie von Musil
verschmitzt angedeutet, „zum Wunder“233. Sport ist schon gar nicht „allein von
den Zuschauern her verstehbar“234. Musil kritisiert die strikte, durch den Bau
gigantischer Sportstandorte beförderte Trennung in Aktive (als Boxer im Ring)
und (passiv agierende) Zuschauer, die sich freiwillig den straff organisierten und
durchkommerzialisierten Hochgefühlprogrammen unterwerfen.235 Er separiert
die Bereiche Aktivsport und Publikumspassivität nur deshalb, um diese bündig als
wichtige Partikel im Relationsgeflecht des Boxens zu erörtern. Musil stellt auf sei-
nem imaginären Gang durch die Sitzreihen der Arenen den hybriden Anspruch
des sportlichen Aktivismus infrage – und damit den Sport als Projektionsfläche
für kollektive Wünsche insgesamt. Im Mann ohne Eigenschaften verwirft er die
Vorstellungsbilder und Verbrüderungsutopien vom Sport, die jenen Erklärungen
entwachsen sind, die besagen, dass Sport verbinde und die Menschen „zu Kame-
raden und dergleichen“236 mache. Und in Durch die Brille des Sports notiert Musil:
Es ist einseitig, wenn man immer nur schreibt, daß der Sport zu Kameraden ma-
che, verbinde, einen edlen Wetteifer wecke; denn ebenso sicher kann man auch
behaupten, daß er einem weit verbreiteten Bedürfnis, dem Nebenmenschen eine
aufs Dach zu geben, oder ihn umzulegen entgegenkommt, dem Ehrgeiz, der Über-
legene zu sein, und überhaupt eine grandiose Arbeitsteilung zwischen Gut und
Bös der Menschenbrust bedeute.237
232 Musil 1978h, S. 691
233 Baur 1976, S. 152
234 Ebd.; vgl. Görtz 1996, S. 343
235 Vgl. Fleig 2005, S. 88
236 Musil 1989a, S. 29
237 Musil 1978e, S. 794 331
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440