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nung und Konditionszunahme sollen gleichermaßen für Exaktheit und Ent-
rücktheit sorgen. Der Text Als Papa Tennis lernte deutet die Berührungspunkte
zwischen „Muskeln und Nerven“371, zwischen Physis und Psyche an:
Man wird angelernt, die Vorgänge im eigenen Körper zu beobachten, die Reak-
tionszeiten, die Innervationen, das Wachstum und die Störungen in der Koor-
dination der Bewegungen, man erlernt die Beobachtung und Auswertung von
Nebenvorgängen, die rasche intellektuelle Kombination; alles das ähnlich, wenn
auch nicht in dem Maße wie ein Jongleur. Man erwirbt Bekanntschaft mit den
Fehlleistungen, welche der wahrnehmbaren Müdigkeit voranschleichen; man lernt
das eigentümliche Schweben zwischen zuviel und zuwenig Fleiß kennen, die beide
schädlich sind, den gewöhnlich ungünstigen Einfluß der Affekte auf die Leistung
und andererseits die beinahe mirakulöse Natur des besonders guten Gelingens, wo
der Erfolg sozusagen schon vor der Anstrengung da ist.372
Zugleich nähert sich in der Zeit der Weimarer Republik kein anderer Autor, der
sich mit Boxen auseinandersetzt, der systematischen Leibesertüchtigung reflexiv
so nah an: Musil reizt selbst die Frage nach der Versorgung der menschlichen
Organe und des umgebenden Gewebes mit Nervenfasern („Innervation“) zum
Nachdenken und intellektuellen Kartieren. Training mit seinen automatisier-
ten Bewegungsfolgen unterliegt Normierung und Rationalisierung: Ein „gro-
ßes Wachsen des Durchschnittkönnens wie der Spitzenleistungen“373 gehe mit
dem Durchorganisieren und Disziplinieren des Körpers einher, billigt Musil der
Trainingsarbeit in Als Papa Tennis lernte zu; der Feststellung schreibt der Ver-
fasser jedoch umgehend die „Duplizität der Wahrnehmung“374 ein: Den ent-
scheidenden Trainingsfortschritt, der zu der angepeilten Höchstleistung – die
„mirakulöse Natur des besonders guten Gelingens375, spottet Musil – führen
soll, illustriert der Autor in der Erzählung mit einem Bild kontradiktorischer
Risikobereitschaft: Man lerne im Training, so Musil in Als Papa Tennis lernte,
das Gleichgewicht halten wie ein Akrobat auf einem „Seil, das in der Höhe
von einem Meter gespannt“376 sei. Ziel von Drill und Schliff des Boxtrainings
sind muskelmaschinelles Funktionieren und Eintrainieren einer überalarmier-
ten Geistesgegenwart, die Instinkthandeln und das temporäre Ausschalten re-
371 Fleig 2008, S. 181
372 Musil 1978h, S. 689f
373 Ebd., S. 686
374 Fleig 2008, S. 214
375 Musil 1978h, S. 689
376 Ebd.
348 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440