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perkultur locken420, setzt er einer freiwilligen Auslieferung an ein körper- und
sportbetontes „Regime“421 gleich. Der Körper, wird Foucault später in Nietzsche,
die Genealogie, die Historie gleichlautend feststellen, unterliege nicht einzig den
„Gesetzen der Physiologie“422, sondern sei einer „ganzen Reihe von Regimen“423
ausgeliefert. Boxen produziert und aktiviert spezifische Wissens- und Macht-
formen, die sich den sozialen, ökonomischen und politischen Diskursen anla-
gern. In einem ausführlichen Vermerk in Heft 19 der Tagebücher probt Musil
bereits 1919 den diskursiven Brückenschlag zwischen dem Phänomen des Trai-
nings und dessen diskursivem Umfeld:
Seit ich zum Leben erwacht bin, denke ich mir die Sache anders. Das heißt: Stel-
lenweise klare Kritik, stellenweise klare durchdachte Vorschläge. Einiges davon
habe ich niedergeschrieben und veröffentlicht. Viel mehr aber ist dunkles Wider-
streben geblieben. Halb emporgehoben, wieder Versunkenes. Weite Ahnungszu-
sammenhänge, denen der Verstand nicht gefolgt ist.
Der Verstand, der das wissenschaftliche Training genossen hat, mag nicht folgen,
wenn er sich nicht Brücken gebaut hat, deren Tragfähigkeit exakt berechnet ist.
Hie und da rechnete ich ein einzelnes Feld einer solchen Brücke aus; ließ die
Arbeit wieder, in der Überzeugung, daß sie doch nicht vollendet werden kann.
Ich könnte mich ja hinsetzen und Material zusammenraffen […]. Aber was bleibt
davon? Wenn der Atem verblasen ist, mit dem die Fülle zu beleben versucht wurde,
ein unorganischer toter Haufe [sic] von Material.424
Die „Ahnungszusammenhänge“ aus den Tagebüchern weichen bald dem Wis-
sen um die Vergeblichkeit einer auf schierer Körperlichkeit und rigoros von
Training dominierten Lebensführung, die zu einer von Boxen mitbestimmten
„Selbstentfremdung“425 führen. Musil entfernt aus dem Training, verstanden als
systematische körperliche Durchformung, weitestgehend die positiven Aspekte.
Boxen versteht Musil nicht allein als eine Form mechanistischer Körperinsze-
nierung, die nachhallende gesellschaftliche Bilder schafft. Boxen ist für Musil
das Resultat eines Vorgangs, in dem die Ebenen des Seelischen, Geistigen und
Leiblichen in multiplexer Verstrickung miteinander spannungsreich verbunden
420 Vgl. Alkemeyer 2009, S. 54f
421 Musil 1989b, S. 1054
422 Foucault 2002a, S. 179
423 Ebd.
424 Musil 1976a, S. 527
425 Baur 1980, S. 108
354 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440