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schen dem Zustand eines Systems zum Zustand der umgebenden Systeme“489
ergibt und das sowohl durch das äußere – beispielsweise durch einen Lichts-
trahl490 – wie das innere Umfeld bestimmt scheint; die Kräfte, die sich entfalten,
sind im „psychischen und nicht im physikalischen Feld“491 auszumachen. Musil
nimmt diese Hinweise fĂĽr seine Betrachtungen des Boxens dankbar auf: Die
körperlich ausgetragenen Kampfduelle der Boxer erweitern sich um die Heraus-
forderungen der Psyche. Boxen findet nicht abgekoppelt von den Binnenräumen
des Psychischen statt. Auf den Prozess, der das Bild des Boxens formt, wirken
die Faktoren des Inneren und Äußeren ein. In Kenntnis der Schriften Lewins
begreift Musil Boxen als eine Sportart, die von einströmendem, verwirbelndem
Gegenwartsbezug bestimmt scheint. Mach und Lewin – und mit ihnen Musil –
wenden sich von der introspektiv-kommensurablen Psychologie ab und betonen
die dynamisch-komplexen Beziehungsgefüge unterschiedlich sinnlich-körper-
licher Aspekte. Denn letzten Endes, so Musils Prämisse, die er im Mann ohne
Eigenschaften mit Hilfe der Psychotechnik untermauert, kämen
alle Gedanken aus den Gelenken, Muskeln, DrĂĽsen, Augen, Ohren und den schat-
tenhaften Gesamteindrücken, die der Hautsack, zu dem sie gehören, von sich im
ganzen hat. Die vergangenen Jahrhunderte haben vielleicht einen schweren Irr-
tum begangen, indem sie auf Verstand und Vernunft, auf Ăśberzeugung, Begriff und
Charakter zu viel Wert legten; es war so, wie wenn man Registratur und Archiv fĂĽr
den wichtigsten Teil eines Amts halten wollte, weil sie ihr BĂĽro in der Zentrale ha-
ben, obgleich sie nur Hilfsämter sind, die ihre Weisungen von außen empfangen.492
Musil implantiert in den Körper dafür tranceartige, ekstatische und extreme
subjektive Zustände: Er beharrt darauf, wie bereits betont – und darin durchaus
Brecht verwandt –, im „Ungebärdigen des Sports seine wichtigste Leistung zu
sehen“493. Die Figur des Faustkämpfers lässt das Ungestüme des Sports – pa-
radox verstärkt durch die Prinzipien der Rationalität, Berechenbarkeit, Techni-
sierung und Optimierung – geradezu plastisch erscheinen; das Moment inten-
siver Selbsterfahrung beleuchtet sich im Boxen schlaglichtartig selbst: Schnelle
Sport aktionen, schreibt Musil in Kunst und Moral des Crawlens, zögen ein „ge-
schichtetes Ineinandergreifen von […] festgelegten Verhaltensweisen“494 nach
489 Lewin 1982, S. 51
490 Vgl. ebd., S. 26; Ehmig, Richter 2008, S. 32
491 Marrow 2002, S. 63
492 Musil 1989a, S. 408f
493 MĂĽller 2004, S. 122
494 Musil 1978g, S. 698
362 | Teil
II.
Im
Moderne-Labor
FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂĽberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂĽckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440