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Zunge“536, worauf sie zur weiteren Untersuchung ins „Psychotechnische Staats-
institut“537 verbracht werden, das sich im „Hauptquartier der Polizeiabwehr“538
befindet. In Musils „Satire auf die Gesellschaft“539 waltet die behördliche Admi-
nistration als eiserne Disziplinarmacht mitten im bĂĽrgerlichen Leben: Korrektur
und Adaption von Physis und Psyche tendieren aus Staatsräson zu hypertropher
Entstellung. Der zentrale Untersuchungsgegenstand der Magenschlag-Satire, die
als frĂĽher szenischer Entwurf im Einflussbereich des Mann ohne Eigenschaften
angesiedelt wird540, bleibt freilich der psychotechnisch durchformte Mensch,
dem signifikante Details aus der Sphäre des Boxens eingeschrieben sind; es sind
etliche Belege im erweiterten Umfeld des Mann ohne Eigenschaften aufzuspĂĽren,
um die vorgeschlagene Hypothese zu plausibilisieren. Um 1918 projektiert Musil
in den Tagebüchern eine Erzählung, in der eine männliche Figur auftaucht, die
sich „oft in Lebensgefahr begeben hat ([i]m Gebirge, beim Schwimmen, Segeln,
Autofahren)[.] Aber immer war ihm das nur ein Sportreiz“541. Knapp zwei Jahre
später – der Held firmiert nun unter dem Namen Achilles – schreibt Musil in
seinen Aufzeichnungen: „Er hat seine Habilitation erreicht und damit ist sein
Sportsinn erschöpft.“542 Auch die folgende Passage ist auf die Zeit um 1920 da-
tiert: „Leichter ist es, A. körperlich zu beschreiben. Seine große, hohe Brust das
Entzücken jeden Schneiders. […] Die Figur griechisch, aber mit stärkeren Mus-
keln; und die Muskeln zylindrisch und konisch und nicht solche Knödel wie in
der Renaissance.“543 Noch 1921 trägt der Protagonist des späteren Romans Der
Mann ohne Eigenschaften nach einer Tagebuchnotiz Musils den Namen Anders
und erhält Parameter persönlicher Identität verliehen, die auf die Verschränkung
von Kraft und Geist, von boxerischen und zeitgenössisch-zeichenhaften Be-
trachtungsweisen zielen. Anders wird als ein „Logiker aus Training“544 darge-
stellt. Aufgeboten wird Anders zudem als „Genauigkeitsmann mit dem Bewußt-
sein, daß Genauigkeit nicht selig macht“545, sowie als „Logiker u. Boxer“546, der
536 Ebd.
537 Vgl. ebd., S. 564
538 Vgl. ebd.
539 Ebd., S. 565
540 Vgl. Kunze 1986, S. 79; Fischer 1999, S. 133
541 Musil 1976a, S. 346
542 Ebd., S. 379
543 Ebd., S. 393
544 Ebd., S. 597
545 Ebd.
546 Musil 1989b, S. 1985 367
Primat
der
Reflexion:
Musils
Reorganisation
des
Boxens
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FAUST UND GEIST
Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Title
- FAUST UND GEIST
- Subtitle
- Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen
- Author
- Wolfgang Paterno
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20545-6
- Size
- 16.1 x 25.5 cm
- Pages
- 446
- Keywords
- Literature, Sport, Boxing, Weimar Republic, Cultural Studies, Literatur, Sport, Boxen, Weimarer Republik, Kullturhistorie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Grundlagen 15
- Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie 21
- Fokussierung: Recherchewege und KapitelĂĽberblick 29
- Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum 32
- Forschungsberichte: LĂĽckenhafte Spurenlage 45
- Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom 53
- Ringfeldsichtung 113
- Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman 118
- Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur 160
- „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen 237
- Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens 304
- ZUSAMMENFASSUNG 389
- ANHANG
- Bibliografie 402
- Bildnachweis 438
- Dank 439
- Namensregister 440