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als die größte aller Lasten ihn1 fühlen lasse. Es geht
in seiner Feindseligkeit gegen die Vernunft so weit, daß
es selbst ihre Tugenden, ihre liebenswürdige Einfachheit,
ihre himmlische Sanftmut, ihre unermüdliche Geduld,
ihre beispiellose Treue und wohlwollende Sorge für das
Beste des Menschen als Mangel an höherer Bildung, als
Beweise ihrer Borniertheit und gemeinen bürgerlichen
Gesinnung bezeichnet. Verblendet durch diese Zauber-
künste seiner Mätresse, erkennt der Tölpel nicht, daß
selbst noch in dieser seiner Verirrung die Vernunft sein
leitender Genius ist und mit rastloser Wachsamkeit und un-
ergründlicher Langmut zur Abwehrung grundverderblicher
Schritte stets hinter seinem Rücken steht, ja, daß er nur
aus ihren Mitteln — denn von Hause aus ist der Mensch
bettelarm, nur seine Frau brachte ihm sein Vermögen zu —
die zu seiner Liebesaffäre notwendigen Kosten bestreitet.
Denn wie ist Liebe möglich ohne gegenseitige Verständi-
gung? W7as ist die Liebe selbst2 anders als eine vertraute
innige Korrespondenz? Wie könnte er nun aber seiner
Mätresse Liebesbriefe schreiben, wie Erfolg von ihnen er-
warten, wenn nicht die Vernunft die vielen sachlichen und
selbst orthographischen Fehler, die er in der besinnungs-
losen Hast seines Herzens hinschreibt, korrigierte und die
besten, siegreichsten Gedanken ihm in die Feder diktierte?
Wie könnte er ihr auch nur ein Rendezvous bestimmen,
wenn es nicht mehr richtig in seinem Kopfe wräre, wenn
nicht die Vernunft in den beiden Begriffen von Ort und
Zeit zwei willkommene Auswege ihm darböte, sich aus der
peinlichen Verlegenheit seiner Herzensnot herauszuziehen?
Bei dieser gnadenreichen Nachsicht, welche die Vernunft
mit dem Menschen hat, unterläßt sie es jedoch zugleich
nicht, hebevolle leise Vorwürfe und Ermahnungen aller
Art anzuwenden, um ihn zur Räson zu bringen, sie greift
selbst zu dem äußersten Mittel, das ihr zu Gebote steht,
um sich in seinem undankbaren Gemüte Eingang zu ver-
schaffen, sie schreibt Bücher, d. h. anonyme Briefe an den
Menschen, in der gegründeten Überzeugung, daß das schrift-
liche Wort, als das von dem störenden Einflüsse der Per-
1 Im Original A, B und C: ihm
2 die . . . selbst: sie C
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Volume 1
(Gemeinfreie Teile)
- Title
- Ludwig Feuerbach
- Subtitle
- Gesammlte Werke
- Volume
- 1
- Editor
- Werner Schuffenhauer
- Publisher
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Date
- 1981
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 11.6 x 17.8 cm
- Pages
- 468
- Category
- Geisteswissenschaften