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Realität und Geistesgewalt sind, wie sollen ihre Anschau-
ungen es nicht sein, nach deren Größe und Realität sich
doch allein ihre eigne Größe und Realität bemißt? Könnt
ihr euch denn einbilden, daß der Mensch im Dichten und
Denken über sein wahres Sein hinauskann, daß er Gott
anders denkt, als er selber in Wahrheit ist, daß er etwas
zum Objekt seiner Anschauungen machen kann, was nicht
zugleich eine Anschauung seiner selbst wäre? Was heißt
Dichten und Denken anders, als sein eigenes Leben zu
einem Gemeingut, zu einem Leben machen, das auch alle
andere[n] mitleben und mitgenießen können, als sich
selbst, sein Wesen zum anschaubaren Gegenstande nicht
nur seiner selbst, sondern auch anderer machen?
Also: Wenn ihr Leibniz' philosophisches Prinzip, die
Monade, Spinozas Substanz einen bloßen Gedanken in
eurem Sinne, d. i. eine Einbildung oder Chimäre nennt, so
nennt ihr den Leibniz, den Spinoza selbst eine Chimäre;
es ist eine Unwahrheit, daß je ein Leibniz existierte, wenn
seine Monade eine Unwahrheit ist; war seine Monade nichts,
so war er selbst auch nichts. Denn in der Monade, die Leib-
niz zum Prinzipe der Welt machte, haben wir sein ver-
gegenständlichtes Wesen selbst, haben wir ihn ganz, wie er
leibt und lebt. Wie Xenophanes von seinem Gotte sang: „Er
ist ganz Auge, ganz Ohr", so können wir von Leibniz sagen :
Er hatte nicht Geist, er war selbst ganz Geist, ganz Denken,
ganz Leben und Tätigkeit. Wie das Universum, seiner Philo-
sophie zufolge, einem Fischteiche voller lebendiger Wesen
gleicht, in dem aber jeder Wassertropfe selbst wieder ein
Fischteich ist, so war jeder Blutstropfe, jedes Atom von
ihm selbst wieder ein kleiner Leibniz, Leibniz selbst nichts
anders als ein compositum,1 ein Aggregat, eine große2
Enzyklopädie von lauter Leibnizen, wovon aber jeder sein
ganzes Wesen widerspiegelt, wie jede Monade das ganze
Universum, nichts anders als ein dichter (sit venia verbo
[mit Verlaub gesagt]) Lichtbüschel, wovon jeder einzelne
Strahl hingereicht hätte, die Seele eines tüchtigen Menschen
zu bilden. Betrachtet dagegen die erhabne Einfachheit,
die stille Würde und Ruhe im Leben und Charakter Spi-
1 ein compositum, Fehlt in C.
2 Fehlt in C.
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Volume 1
(Gemeinfreie Teile)
- Title
- Ludwig Feuerbach
- Subtitle
- Gesammlte Werke
- Volume
- 1
- Editor
- Werner Schuffenhauer
- Publisher
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Date
- 1981
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 11.6 x 17.8 cm
- Pages
- 468
- Category
- Geisteswissenschaften