Page - 624 - in Ludwig Feuerbach - Gesammlte Werke, Volume 1
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steller ein Miserere Domine [Herr, Erbarme dich], ein Ecce
Homo [Sieh', welch ein Mensch], angenagelt an das Kreuz des
Lebens, eingekerket in dem engen Spatium einer bestimm-
ten Zeit und eines bestimmten Orts und seine Wirkungs-
weise nur auf einen kleinen Kreis von Menschen ein-
geschränkt, aber im Himmel seiner geistigen Anschauungen,
in dem ätherischen Fluidum und Medium der Schrift ist
er der allgegenwärtige und allmächtige Gottessohn.
Der echte Schriftsteller ist keine Memme; er scheut nicht
die Selbstaufopferung; er kondensiert und komprimiert
die ganze Energie seiner Seele in das Brennglas der Schrift.
Sein Buch ist daher eine imponierende Individualität,
eine gebieterische Macht, ein sich selbst behauptendes
Wesen, ausgestattet mit aller Kraft und Fülle des Lebens.
Denn bei ihm ist die Schriftstellerei ein wahrer Kraftauf-
wand und Lebensverlust, ein innerer lebendiger Wesens-
und Zeugungsakt. Darum sind mir das ganz klägliche
Schriftsteller und Menschen, ganz matte, seichte Brüder,
die den Menschen von dem Schriftsteller abtrennen, die die
Schriftstellerei als einen außerwesentlichen Aktus fassen
und betreiben und denen daher auch wirklich ihre Schriften
nur wie faule Zähne ausfallen, ohne daß ihre innern Le-
benskräfte dabei affiziert und konsumiert werden.
Schüler schreibt während der Ausarbeitung seines
„Wallensteins" an Goethe: „An den ,Wallenstein' werde ich
mich so sehr halten, als ich kann, aber das pathologische
Interesse der Natur an einer solchen Dichterarbeit hat viel
Angreifendes für mich. Glücklicherweise alteriert meine
Kränklichkeit nicht meine Stimmung, aber sie macht,
daß ein lebhafter Anteil mich schneller erschöpft und in
Unordnung bringt. Gewöhnlich muß ich daher einen
Tag der glücklichen Stimmung mit fünf oder sechs Tagen
des Drucks und des Leidens büßen." Und Goethe antwortet
ihm darauf: „Ich kann mir den Zustand Ihres Arbeitens
recht gut denken. Ohne ein lebhaftes pathologisches
Interesse ist es auch mir niemals gelungen, irgendeine
tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe sie daher
lieber vermieden als aufgesucht. Sollte es wohl auch einer
von den Vorzügen der Alten gewesen sein, daß das höchste
Pathetische auch nur ästhetisches Spiel bei ihnen gewesen
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Ludwig Feuerbach
Gesammlte Werke, Volume 1
(Gemeinfreie Teile)
- Title
- Ludwig Feuerbach
- Subtitle
- Gesammlte Werke
- Volume
- 1
- Editor
- Werner Schuffenhauer
- Publisher
- AKADEMIE-VERLAG BERLIN
- Date
- 1981
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 11.6 x 17.8 cm
- Pages
- 468
- Category
- Geisteswissenschaften