Page - 191 - in Radetzkymarsch
Image of the Page - 191 -
Text of the Page - 191 -
7Kapitel
Der Kaiser war ein alter Mann. Er war der älteste Kaiser der Welt. Rings um
ihn wandelte der Tod im Kreis, im Kreis und mähte und mähte. Schon war
das ganze Feld leer, und nur der Kaiser, wie ein vergessener silberner Halm,
stand noch da und wartete. Seine hellen und harten Augen sahen seit vielen
Jahren verloren in eine verlorene Ferne. Sein Schädel war kahl wie eine
gewölbte Wüste. Sein Backenbart war weiß wie ein Flügelpaar aus Schnee.
Die Runzeln in seinem Angesicht waren ein verworrenes Gestrüpp, darin
hausten die Jahrzehnte. Sein Körper war mager, sein Rücken leicht gebeugt.
Er ging zu Hause mit trippelnden, kleinen Schritten umher. Sobald er aber die
Straße betrat, versuchte er, seine Schenkel hart zu machen, seine Knie
elastisch, seine Füße leicht, seinen Rücken gerade. Seine Augen füllte er mit
künstlicher Güte, mit der wahren Eigenschaft kaiserlicher Augen: Sie
schienen jeden anzusehen, der den Kaiser ansah, und sie grüßten jeden, der
ihn grüßte. In Wirklichkeit aber schwebten und flogen die Gesichter nur an
ihnen vorbei, und sie blickten geradeaus auf jenen zarten, feinen Strich, der
die Grenze ist zwischen Leben und Tod, auf den Rand des Horizontes, den die
Augen der Greise immer sehen, auch wenn ihn Häuser, Wälder oder Berge
verdecken. Die Leute glaubten, Franz Joseph wisse weniger als sie, weil er so
viel älter war als sie. Aber er wußte vielleicht mehr als manche. Er sah die
Sonne in seinem Reiche untergehen, aber er sagte nichts. Er wußte, daß er vor
ihrem Untergang noch sterben werde. Manchmal stellte er sich ahnungslos
und freute sich, wenn man ihn umständlich über Dinge aufklärte, die er genau
kannte. Denn mit der Schlauheit der Kinder und der Greise liebte er die
Menschen irrezuführen. Und er freute sich über die Eitelkeit, mit der sie sich
bewiesen, daß sie klüger wären als er. Er verbarg seine Klugheit in der
Einfalt: Denn es geziemt einem Kaiser nicht, klug zu sein wie seine Ratgeber.
Lieber erscheint er einfach als klug. Wenn er auf die Jagd ging, wußte er
wohl, daß man ihm das Wild vor die Flinte stellte, und obwohl er noch
anderes hätte erlegen können, schoß er dennoch nur jenes, das man ihm vor
den Lauf getrieben hatte. Denn es ziemt einem alten Kaiser nicht, zu zeigen,
daß er eine List durchschaue und besser schießen könne als ein Förster. Wenn
man ihm ein Märchen erzählte, tat er, als ob er es glaube. Denn es ziemt
einem Kaiser nicht, jemanden auf einer Unwahrheit zu ertappen. Wenn man
hinter seinem Rücken lächelte, tat er, als wüßte er nichts davon. Denn es
ziemt einem Kaiser nicht, zu wissen, daß man über ihn lächelt; und dieses
Lächeln ist auch töricht, solange er nichts davon wissen will. Wenn er Fieber
191
back to the
book Radetzkymarsch"
Radetzkymarsch
- Title
- Radetzkymarsch
- Author
- Joseph Roth
- Date
- 1932
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 294
- Keywords
- Roman, Geschichte, KUK, Österreich, Ungarn
- Categories
- Weiteres Belletristik