Page - 16 - in Tonka
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»Ihm schenkte des Gesanges Gabe, der Lieder süßen Mund Apoll«, und er
bemerkte zum ersten Mal, daß dies wirklich ein Geschenk sei. Wie stumm
war Tonka! Sie konnte weder sprechen noch weinen. Ist aber etwas, das
weder sprechen kann, noch ausgesprochen wird, das in der Menschheit
stumm verschwindet, ein kleiner, eingekratzter Strich in den Tafeln ihrer
Geschichte, ist solche Tat, solcher Mensch, solche mitten in einem
Sommertag ganz allein niederfallende Schneeflocke Wirklichkeit oder
Einbildung, gut, wertlos oder bös? Man fühlt, daß da die Begriffe an eine
Grenze kommen, wo sie keinen Halt mehr finden. Und er ging wortlos hinaus,
um Tonka zu sagen, daß er für sie sorgen wolle.
Er traf Fräulein Tonka beim Einpacken ihrer Habe. Auf einem Sessel lag
eine große Pappschachtel und am Fußboden standen zwei; eine davon war
schon mit Bindfaden verschnürt, aber die beiden andern wollten den
herumliegenden Reichtum nicht fassen, und das Fräulein studierte und nahm
immer wieder ein Stück heraus, um es anderswo hineinzulegen, Strümpfe und
Sacktücher, Schnürstiefel und Nähzeug, der Länge und Breite nach versuchte
sie es und konnte, so dürftig ihr Besitz war, niemals alles verstauen, denn ihr
Reisegepäck war noch dürftiger.
Die Tür ihres Zimmerchens stand offen, und er vermochte ihr eine Weile
zuzusehen, ohne daß sie es wußte. Als sie ihn bemerkte, wurde sie rot und
stellte sich rasch vor die offenen Schachteln. »Sie wollen uns verlassen?«
sagte er und freute sich über ihre Verlegenheit. »Was werden Sie machen?«
»Ich fahre nach Hause zur Tante.«
»Wollen Sie dort bleiben?«
Fräulein Tonka zuckte die Achseln. »Ich werde trachten, etwas zu finden.«
»Wird Ihre Tante nicht ungehalten sein?«
»Für ein paar Monate hab ich ja mein Auskommen und bis dahin werde ich
schon eine Stellung finden.«
»Dann geht aber Ihr bißchen Ersparnis verloren.«
»Was kann man machen.«
»Und wenn Sie so rasch keine Stellung finden?«
»Dann werde ich es eben wieder alle Augenblick auf dem Teller haben.«
»Auf dem Teller? Was?«
»Nun eben, daß ich nichts verdiene. Das war schon so, als ich im Geschäft
war. Ich hab wenig verdient dort, aber ich konnte nichts machen, und sie hat
nie etwas gesagt. Bloß wenn sie zornig war, aber dann jedesmal.«
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Tonka
- Title
- Tonka
- Author
- Robert Musil
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.8 cm
- Pages
- 46
- Categories
- Weiteres Belletristik