Page - 34 - in Tonka
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waren die körperlichen sehr merklich gewesen. Jetzt war es zu spät. Ihr
Schweigen war jetzt über alles gebreitet und vermochte Unschuld oder
Verstocktheit zu sein, ebensogut List und Leid, Reue, Angst; aber auch Scham
für ihn. Doch hätte es ihm nicht geholfen, wenn er auch alles noch einmal
hätte erleben können. Mißtraue einem Menschen, und die deutlichsten
Anzeichen der Treue werden geradezu Zeichen der Untreue sein, traue ihm,
und handgreifliche Beweise der Untreue werden zu Zeichen einer verkannten,
wie ein von den Erwachsenen ausgesperrtes Kind weinenden Treue. Es war
nichts für sich zu deuten, eines hing von dem andern ab, man mußte dem
Ganzen trauen oder mißtrauen, es lieben oder für Trug halten, und Tonka
kennen, hieß in einer bestimmten Weise auf sie antworten müssen, ihr
entgegenrufen, wer sie sei; es hing fast nur von ihm ab, was sie war. Tonka
verwirrte sich dann sanft blendend wie ein Märchen.
Und er schrieb an seine Mutter: Ihre Beine sind vom Boden bis zu den
Knien so lang wie von den Knien nach oben, und überhaupt sind sie lang und
können gehen wie Zwillinge, ohne zu ermüden. Ihre Haut ist nicht fein, aber
sie ist weiß und ohne Makel. Ihre Brüste sind fast ein wenig zu schwer, und
unter den Armen trägt sie dunkle, zottige Haare; das sieht an dem schlanken,
weißen Körper lieblich zum Schämen aus. An den Ohren hängt ihr Haar in
Strähnen herab, und zuweilen glaubt sie es brennen und hoch frisieren zu
müssen; dann sieht sie wie ein Dienstmädchen aus, und das ist gewiß das
einzig Böse, was sie in ihrem Leben getan hat …
Oder er antwortete seiner Mutter: Zwischen Ancona und Fiume oder wohl
auch zwischen Middelkerke und einer unbekannten Stadt steht ein
Leuchtturm, dessen Licht allnächtlich wie ein Fächerschlag übers Meer
blinkt; wie ein Fächerschlag, und dann ist nichts, und dann ist wieder etwas.
Und im Vennatal auf den Wiesen steht Edelweiß.
Ist das Geographie oder Botanik oder Nautik? Das ist ein Gesicht, das ist
etwas, das da ist, einzig und allein und ewig da ist, und deshalb gleichsam
nicht da ist. Oder was ist das?
Er schickte diese unsinnigen Antworten natürlich niemals ab.
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book Tonka"
Tonka
- Title
- Tonka
- Author
- Robert Musil
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.8 cm
- Pages
- 46
- Categories
- Weiteres Belletristik