Page - 41 - in Tonka
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ihm damals doch untreu gewesen sein mußte; aber statt Alarm in ihm zu
schlagen, erregte sie nur eine fast angenehme Überraschung, er dachte, als ob
es gar nicht ihn berührte, darüber nach, wie das damals wohl zugegangen sein
mochte, und fühlte bloß: die arme Tonka, die dann an den Folgen einer
einzigen flüchtigen Verwirrung so litt … ! Ja, er mußte sich manchmal in acht
nehmen, daß er nicht plötzlich ganz lustig sagte: Tonka, gib acht, jetzt ist mir
endlich eingefallen, was wir vergessen haben – mit wem du mir damals
untreu warst! So verrann alles. Nichts Neues kam. Es blieb nur die Uhr. Und
die alte Vertrautheit.
Und auch ohne daß sie sich ausgesprochen hatten, brachte sie die
Augenblicke des Nacheinanderverlangens der Körper wieder. Sie kamen, so
wie alte Bekannte auch nach langer Abwesenheit ohne viel Umstände ins
Zimmer treten. Die Fenster jenseits des engen Hofes lagen blind im Schatten,
die Menschen waren zur Arbeit gegangen, wie ein Brunnen dunkelte unten
der Hof, die Sonne schien wie durch Bleischeiben in die Wohnung, sie hob
jeden Gegenstand heraus und ließ ihn tot aufleuchten. Und da lag zum
Beispiel auch einmal ein kleiner alter Kalender so aufgeschlagen, als hätte
Tonka eben in ihm geblättert, und in der weiten, weißen Ebene eines Blattes
stand, wie eine Pyramide der Erinnerung zu einem Tag gesetzt, ein kleines
rotes Rufzeichen. Alle andern Blätter waren mit Eintragungen des alltäglichen
Lebens, mit Preisen, Besorgungen gefüllt, und nur dieses war leer bis auf das
Zeichen. Keinen Augenblick zweifelte er daran, daß dies die Erinnerung an
jenen Tag bedeutete, dessen Vorfälle Tonka verbarg, die Zeit mochte ungefähr
stimmen, und die Gewißheit schoß wie ein Blutsprudel in den Kopf. Aber die
Gewißheit lag ja in nichts als eben in dieser plötzlichen Heftigkeit, und im
nächsten Augenblick hatte sie sich wieder in ein Nichts zurückgezogen;
wollte man diesem Rufzeichenglauben, so mochte man ebensogut dem
Wunder glauben, und das Vernichtende war doch gerade, daß man keins von
beiden tat. Es ging da ein erschrockenes Aufblicken von einem zum andern.
Tonka hatte wohl das Blatt in seiner Hand bemerkt. Die Gegenstände in dem
seltsamen Zimmerlicht sahen jetzt wie Mumien ihrer selbst aus. Die Körper
wurden kalt, die Fingerspitzen vereisten, und die Eingeweide hielten wie ein
heißer Knäuel alle Lebenswärme fest. Der Arzt hatte wohl gewarnt, Tonka
bedürfe äußerster Schonung, sollte ihr nicht ein Unglück zustoßen; aber
gerade den Ärzten durfte man ja in diesem Augenblick nicht trauen. Und auch
nach der andern Seite blieben alle Anstrengungen vergeblich; vielleicht war
Tonkas Kraft zu gering, sie blieb ein halbgeborener Mythos.
»Komm zu mir,« bat Tonka, und sie teilten Leid und Wärme mit traurigem
Gewährenlassen.
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Tonka
- Title
- Tonka
- Author
- Robert Musil
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.8 cm
- Pages
- 46
- Categories
- Weiteres Belletristik