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Rechtsinstitutionen, karantanerslowenische
Rechtsinstitutionen, karantanerslowenische. Die
Herkunft mittelalterlicher R. ist meist ungeklärt. Die
Pravda russkaja »das Recht der Rus« (literaturüblich
»das russische Recht«) wird von der nationalen For-
schung für altes »nunmehr« (11. Jh.) kodifiziertes russi-
sches Gewohnheitsrecht gehalten. Tatsächlich ist es bis
in die Details der Bußgelder ein für die zweisprachige
schwedisch/slawische (Ruotsi/Rusi) Oberschicht über-
setztes Recht aus dem altschwedischen Rechtsraum in
alliterierender rhythmisierter Prosa. Eine übersetzeri-
sche Meisterleistung. Das altbulgarische zakon sudnyj
ljudem (Gesetzbuch für das Kirchenvolk) ist ein aus
dem Griechischen übersetztes byzantinisches Kirchen-
recht. Über andere slawische Rechte und R. ist wenig
bekannt. Zur Diskussion stand, ob das karantanerslo-
wenische Recht und R. wie die Fürstenwahl und die
→
Fürsteneinsetzung, slawisch/slowenisch, awarisch
oder eigenartig karantanisch sind. Da sie anderswo
unbekannt sind, auch bei anderen Slawen, muss man
von einer karantanerslowenischen Eigenart ausgehen.
Die soziale Struktur der karantanerslowenischen Ge-
sellschaft bestand seit dem 8. Jh. aus dem dux/Fürsten,
den freien privilegierten »Bauern« (→ Edlinger/kosezi,
→
Crouuati, → Inkulturation), und Unfreien (mancipia,
servi und servae). Bemerkenswert ist die von allen ande-
ren slawischen Sprachen abweichende, aus dem Ladini-
schen stammende slowenische Bezeichnung kmet (< lat.
comes/comitem) für den »Bauern«, und somit das soziale
Prestige dieses Standes in → Karantanien. Prinzipiell
gab es nach dem frühmittelalterlichen → Personalitäts-
prinzip ein eigenes einheimisches Landesrecht und für die
neuen Grundbesitzer ein fremdes bairisch/fränkisches
Recht, d. h. eine duale Rechtsordnung. Die kirchlichen
Würdenträger unterstanden der Jurisdiktion → Salz-
burgs. Für Baltl/Kocher ist außer Zweifel, »[d]ass
es ein karantanisch-slowenisches (sic !) Stammesrecht
in der Zeit vom 7. bis zum 11. Jh. gegeben hat«.
In Karantanien ist mit römischer Tradition zu rech-
nen. Nicht zufällig bestehen → Fürstenstein und Her-
zogstuhl aus Römersteinen, Symbole der →
Kontinuität
der Herrschaft über das Land. Was aus dem römischen
Recht und aus anderen (vorchristlichen) Rechtsbräu-
chen stammt, ist umstritten. Das Christentum jedenfalls
war für die Römer und ab dem 8. Jh. auch für die karan-
tanischen Slowenen u. a. auch eine rechtliche Revolu-
tion. Den Widerstand gegen »das Christliche« aufseiten
der →
Edlinger/kosezi bezeichnete man als → carmula,
ein Terminus der lateinischen (ladinisch/bairischen)
Rechtssprache. Es gab alte Bischofssitze und Verwal- tungszentren wie im Raum der Hauptstadt Virunum
(Magdalensberg/Štalenska gora, → Maria Saal/Gospa
Sveta, → Karnburg/Krnski Grad) sowie eine noch im-
mer funktionierende Infrastruktur (→ Tabula Peutin-
geriana). Es gab seit Justinian (529) ein corpus iuris
civilis, eine Sammlung alter weströmischer Rechte. In
der Provinzhauptstadt Virunum wurden ehemals die
Statthalter, Procuratores und Praesides ohne Wahl von
Rom eingesetzt, ebenso die duces in Baivaria (vom frän-
kischen Zentrum). Für die Baivaria gibt es eine (von
Franken diktierte) lex Baivariorum (6. bis 8. Jh.) mit
germanischen und römischen Elementen. Zum Beispiel
unter manch anderem den römischen Brauch des »an
den Ohren Zupfens« (per aures trahere) bei Vertragsab-
schlüssen, den man bei slowenischen Zeugen nicht voll-
zog. Nach römischer Anatomie war das Ohrläppchen
der Sitz des Verstandes und der Erinnerung. In Karan-
tanien gibt es keine (geschriebene) lex Carantanorum.
Ganz sicher gab es eine Art »Gewohnheitsrecht«. Das
Alter der Fürstenwahl und der → Fürsteneinsetzung
auf der auf den Kopf gestellten Römersäule und dem
aus Römersteinen zusammengesetzten Herzogstuhl
auf dem → Zollfeld/Gosposvetsko polje ist umstritten.
Unter den → duces Borut, Gorazd und Cheitmar
scheint es die eigenartige Fürsteneinsetzung durch freie
Wahl jedenfalls (noch) nicht gegeben zu haben. In der
→ Conversio heißt es nur ducem fecerunt. Gorazd war
der Sohn, Cheitmar der Brudersohn von Borut, also
Verwandte. Die freie Wahl des Landesfürsten durch
»freie Bauern« wird erst im Zusammenhang mit späte-
ren Fürsten erwähnt (→ Fürsteneinsetzung).
Die ältesten Hinweise auf R. finden sich in der
Gründungsurkunde von → Kremsmünster (777), nach
der dem Stift eine decania sclavorum mit dem župan
Physso und den actores Taliup und Sparuna geschenkt
wird. Offensichtlich ist die decania (ladinisch/bairisch
tegneia, technei) eine Verwaltungseinheit wie später das
kirchliche decanatus/Dekanat (mehrere Pfarreien) mit
dem decanus »Dechant«, ohne dass die Zahl deca/de-
cem »zehn« eine Rolle gespielt hätte. Die militärische
Einteilung des »Staates« in Tausendschaften, Hun-
dertschaften und Zehnerschaften gab es im römischen
Recht. In der Pravda russkaja gab es einen tysončiskyi
(lat. millenarius) »Tausendschaftsführer« und sonst
auch noch da und dort sutnici (lat. centuriones) »Hun-
dertschaftsführer«, also keine Ernennung von duces aus
Verwandtschaft.
Die slowenische Dignitätsbezeichnungen župan
(777), ban/bojan, cacanus, crouuati (→ Kroaten), kosezi
Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
Von den Anfängen bis 1942, Band 3 : PO - Ž
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
- Untertitel
- Von den Anfängen bis 1942
- Band
- 3 : PO - Ž
- Autoren
- Katja Sturm-Schnabl
- Bojan-Ilija Schnabl
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79673-2
- Abmessungen
- 24.0 x 28.0 cm
- Seiten
- 566
- Kategorien
- Geographie, Land und Leute
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Lemmata Band 3 Po–Ž 1049
- Verzeichnis aller AutorInnen/BeiträgerInnen und ihrer jeweiligen Lemmata 1571
- Verzeichnis aller ÜbersetzerInnen und die von ihnen übersetzten Lemmata 1577
- Verzeichnis der BeiträgerInnen von Bildmaterial 1579
- Verzeichnis der Abbildungen 1580
- Synopsis (deutsch/English/slovensko) 1599
- Biographien der Herausgeber 1602