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Vorrang speziellerer Vorschriften und Regelungsbereiche
Es ist bereits angeklungen, dass in einer Reihe von Fällen Vorschriften des
Vertrags- und des allgemeinen Schuldrechts, ebenso wie vertragsregulie-
rende Sondergesetzgebung als verdrängende Spezialgesetze fungieren sol-
len.48 Eine solche Aussage, die von Tatbestand und Rechtsfolge des §313
BGB abgehoben formuliert wird, erscheint nach hier vertretener Ansicht
als Einfallstor für voreilige Schlüsse und sollte nicht verfolgt werden.49
Dies gilt umso mehr, als die weithin anerkannten Konkurrenzregeln, ins-
besondere der Vorrang des spezielleren Gesetzes, bei genauerer Betrach-
tung kaum eigenständigen Erkenntniswert haben.50 Vielmehr sind sie le-
diglich Ergebnis eines Interpretationsprozesses.51 Korrekte Ergebnisse mit
Blick auf die Normenhierarchie können nur erzielt werden, wenn Tatbe-
stand und Rechtsfolge des §313 BGB der jeweiligen Vorschrift oder dem
zu erwägenden Regelungsbereich gegenübergestellt und möglichst präzise
an Hand von Vergleichbarkeiten und Unterschieden in den Voraussetzun-
gen, im Wirkungsmechanismus und in der erkennbaren Zweckrichtung
untersucht werden. Hierfür bietet §313 BGB insbesondere im Tatbestand
mit dem Erfordernis des Zumutbarkeitskriteriums, welches gezielt die ver-
tragliche und gesetzliche Risikoverteilung als Abwägungselement ein-
schließt, eine sachgerechte Grundlage. Zudem bietet die Möglichkeit der
Anpassung ein im Übrigen innerhalb des Vertragsrechts kaum anzutreffen-
des, bewegliches Gestaltungsinstrument, um zufällig auftretenden, uner-
warteten Umständen zu begegnen.52 Das Zumutbarkeitskriterium wird zu-
gleich den Sorgen hinsichtlich eines denkbaren Missbrauchs durch ver-
tragsreuige Parteien gerecht.
3.
48 Eingehend T. Finkenauer (Fn.17), §313 Rn.138ff. mwN.
49 Diese These wird durch die Haltung der Rechtsprechung gestützt, vgl. BGHZ 40,
334 (336) = NJW 1964, S.861; BGH WM 1977, S.735.
50 Hierzu der kritische Blick bei E. Kramer, Juristische Methodenlehre, 6.Aufl.,
München 2016, S.117 mwN.; J. Prütting, Rechtsgebietsübergreifende Normenkol-
lisionen, Tübingen 2020, S.114.
51 Ausführlich J. Prütting, Normenkollisionen (Fn.50), S.108ff., 113f.
52 Näher J. Lüttringhaus, Verhandlungspflichten bei Störung der Geschäftsgrundlage
Ein Beitrag zur Dogmatik und Durchsetzung von Anpassungsanspruch und Ver-
handlungspflichten nach §313 Abs.1 BGB, AcP 213 (2013), S.266ff.; mit kriti-
schen Hinweisen C. Thole, Renaissance der Lehre von der Neuverhandlungs-
pflicht bei §313 BGB?, JZ 2014, S.443ff.
Jens Prütting
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https://doi.org/10.5771/9783748909279, am 02.10.2020, 12:06:58
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Buch Vertragsrecht in der Coronakrise"
Vertragsrecht in der Coronakrise
- Titel
- Vertragsrecht in der Coronakrise
- Autor
- Daniel Effer-Uhe
- Herausgeber
- Alica Mohnert
- Ort
- Baden-Baden
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-0927-9
- Abmessungen
- 15.3 x 22.7 cm
- Seiten
- 258
- Kategorien
- Coronavirus
- Recht und Politik
Inhaltsverzeichnis
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