Seite - 36 - in Also sprach Zarathustra
Bild der Seite - 36 -
Text der Seite - 36 -
Vom Baum am Berge
Zarathustra’s Auge hatte gesehn, dass ein Jüngling ihm auswich. Und als er
eines Abends allein durch die Berge gieng, welche die Stadt umschliessen, die
genannt wird »die bunte Kuh«: siehe, da fand er im Gehen diesen Jüngling,
wie er an einen Baum gelehnt sass und müden Blickes in das Thal schaute.
Zarathustra fasste den Baum an, bei welchem der Jüngling sass, und sprach
also:
Wenn ich diesen Baum da mit meinen Händen schütteln wollte, ich würde
es nicht vermögen.
Aber der Wind, den wir nicht sehen, der quält und biegt ihn, wohin er will.
Wir werden am schlimmsten von unsichtbaren Händen gebogen und gequält.
Da erhob sich der Jüngling bestürzt und sagte: »ich höre Zarathustra und
eben dachte ich an ihn.« Zarathustra entgegnete:
»Was erschrickst du desshalb? – Aber es ist mit dem Menschen wie mit
dem Baume.
Je mehr er hinauf in die Höhe und Helle will, um so stärker streben seine
Wurzeln erdwärts, abwärts, in’s Dunkle, Tiefe, – in’s Böse.«
»Ja in’s Böse! rief der Jüngling. Wie ist es möglich, dass du meine Seele
entdecktest?«
Zarathustra lächelte und sprach: »Manche Seele wird man nie entdecken, es
sei denn, dass man sie zuerst erfindet.« »Ja in’s Böse! rief der Jüngling
nochmals.
Du sagtest die Wahrheit, Zarathustra. Ich traue mir selber nicht mehr,
seitdem ich in die Höhe will, und Niemand traut mir mehr, – wie geschieht
diess doch?
Ich verwandele mich zu schnell: mein Heute widerlegt mein Gestern. Ich
überspringe oft die Stufen, wenn ich steige, – das verzeiht mir keine Stufe.
Bin ich oben, so finde ich mich immer allein. Niemand redet mit mir, der
Frost der Einsamkeit macht mich zittern. Was will ich doch in der Höhe?
Meine Verachtung und meine Sehnsucht wachsen mit einander; je höher
ich steige, um so mehr verachte ich Den, der steigt. Was will er doch in der
Höhe?
Wie schäme ich mich meines Steigens und Stolperns! Wie spotte ich
meines heftigen Schnaubens! Wie hasse ich den Fliegenden! Wie müde bin
zurück zum
Buch Also sprach Zarathustra"
Also sprach Zarathustra
- Titel
- Also sprach Zarathustra
- Autor
- Friedrich Wilhelm Nietzsche
- Datum
- 1885
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.0 cm
- Seiten
- 354
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Zarathustras Vorrede 2
- Teil 1 - Die Reden Zarathustras 19
- Von den drei Verwandlungen 20
- Von den Lehrstühlen der Tugend 22
- Von den Hinterweltlern 25
- Von den Verächtern des Leibes 28
- Von den Freuden- und Leidenschaften 30
- Vom bleichen Verbrecher 32
- Vom Lesen und Schreiben 34
- Vom Baum am Berge 36
- Von den Predigern des Todes 39
- Vom Krieg und Kriegsvolke 41
- Vom neuen Götzen 43
- Von den Fliegen des Marktes 46
- Von der Keuschheit 49
- Vom Freunde 51
- Von tausend und Einem Ziele 53
- Von der Nächstenliebe 55
- Vom Wege des Schaffenden 57
- Von alten und jungen Weiblein 60
- Vom Biss der Natter 63
- Von Kind und Ehe 65
- Vom freien Tode 67
- Von der schenkenden Tugend 70
- Teil 2 - Also sprach Zarathustra 75
- Das Kind mit dem Spiegel 77
- Auf den glückseligen Inseln 80
- Von den Mitleidigen 83
- Von den Priestern 86
- Von den Tugendhaften 89
- Vom Gesindel 92
- Von den Taranteln 95
- Von den berühmten Weisen 98
- Das Nachtlied 101
- Das Tanzlied 103
- Das Grablied 106
- Von der Selbst-Ueberwindung 109
- Von den Erhabenen 112
- Vom Lande der Bildung 115
- Von der unbefleckten Erkenntniss 118
- Von den Gelehrten 121
- Von den Dichtern 123
- Von grossen Ereignissen 126
- Der Wahrsager 130
- Von der Erlösung 134
- Von der Menschen-Klugheit 139
- Die stillste Stunde 142
- Teil 3 - Also sprach Zarathustra 145
- Der Wanderer 147
- Vom Gesicht und Räthsel 150
- Von der Seligkeit wider Willen 155
- Vor Sonnen-Aufgang 158
- Von der verkleinernden Tugend 161
- Auf dem Oelberge 167
- Vom Vorübergehen 170
- Von den Abtrünnigen 173
- Die Heimkehr 178
- Von den drei Bösen 182
- Vom Geist der Schwere 187
- Von alten und neuen Tafeln 191
- Der Genesende 222
- Von der großen Sehnsucht 228
- Das andere Tanzlied 231
- Die sieben Siegel 236
- Teil 4 - Also sprach Zarathustra 243
- Das Honig-Opfer 245
- Der Notschrei 248
- Gespräch mit den Königen 251
- Der Blutegel 256
- Der Zauberer 259
- Außer Dienst 267
- Der häßlichste Mensch 271
- Der freiwillige Bettler 276
- Der Schatten 280
- Mittags 283
- Die Begrüßung 286
- Das Abendmahl 291
- Vom höheren Menschen 293
- Das Lied der Schwermut 313
- Von der Wissenschaft 319
- Unter Töchtern der Wüste 322
- Die Erweckung 330
- Das Eselsfest 334
- Das trunkne Lied 339
- Das Zeichen 352