Kunschak, Leopold#
* 11. 11. 1871, Wien
† 13. 3. 1953, Wien
Sattlergehilfe, christlichsozialer Arbeiterführer und Politiker
Gründete 1892 und leitete bis 1934 den Christlichsozialen Arbeiterverein und schuf 1896 die Zeitung "Die Freiheit".
1904-34 Mitglied des Wiener Gemeinderats, 1907-11 Reichsratsabgeordneter, 1913-19 Landesrat von Niederösterreich, 1919-20 Mitglied der Konstituierenden Nationalversammlung, 1920-34 Abgeordneter zum Nationalrat.
1920-21 Obmann der christlichsozialen Reichsparteileitung. Als Demokrat war er Gegner der Heimwehr-Bewegung und der autoritären Politik von Dollfuß. Er versuchte vor den Februarkämpfen 1934 zwischen den Parteien zu vermitteln.
Kunschak unterzeichnete mit Karl Renner und anderen am 27. 4. 1945 die Proklamation, mit der Österreich wieder als demokratischer Staat erstand.
1945 war er Mitbegründer der ÖVP und Vizebürgermeister von Wien. 1945-53 Abgeordneter zum Nationalrat und dessen 1. Präsident - 1965 erfolgte die Gründung einer Kunschak-Stiftung.
Sein Bruder Paul Kunschak erschoss am 11. 2. 1913 den sozialdemokratischen Reichsratsabgeordneten Franz Schuhmeier.
Werke (Auswahl)#
- Arbeiterfrage und Christentum, 1905
- Volkstum und Arbeiterschaft, 1928
- Österreich 1918-34, 1934
- Steinchen vom Wege, 1937
Literatur#
- F. Bauer, L. Kunschak als Politiker, Dissertation, Wien 1950
- F. Stamprech, L. Kunschak, 1950
- G. Blenk, L. Kunschak und seine Zeit, 1966
- A. Pelinka, Stand oder Klasse, 1972
- Politik für den Menschen - 15 Jahre L.-Kunschak-Preis, 1980
- L. Reichhold, L. Kunschak, 1988
- P. Autengruber et al., Umstrittene Wiener Straßennamen
VON KURT BAUER
Freitag, 9. Februar 1934. In der Provinz marschiert die Heimwehr, in Wien durchwühlt die Polizei die sozialdemokratische Parteizentrale. Die Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Im Wiener Gemeinderat geht es um eine eher nebensächliche finanzpolitische Angelegenheit. Schließlich ergreift Leopold Kunschak, der Sprecher der christlichsozialen Opposition, das Wort. Er streift kurz das Thema der Sitzung und geht dann auf die überaus bedenkliche allgemeine Lage ein. Und welche Überraschung! Der eiserne Christlichsoziale Kunschak spricht sich ohne Wenn und Aber für eine Weggemeinschaft mit den Sozialdemokraten gegen den Nationalsozialismus aus. Angesichts dieser Bedrohung müsse alles bisher Trennende zurückstehen. Man werde daher heute „Schulter an Schulter mit jenen stimmen, von denen uns sonst eine Welt trennt". Kunschaks Appell verhallte ungehört. Von einer Zusammenarbeit der großen Lagerparteien gegen Hitler konnte keine Rede mehr sein.
Schon drei Tage später brach vom DollfußRegime bewusst provoziert der ebenso verzweifelte wie sinnlose FebruarAufstand aus. Die Sozialdemokratische Partei wurde verboten, .der Weg war frei zur Beseitigung der letzten Reste der ersten österreichischen Demokratie. Leopold Kunschak Sattlergeselle, charismatischer Arbeiterführer, Demokrat in autoritären Zeiten, unbedingter NaziGegner könnte eine Lichtgestalt der christlichsozialen Bewegung sein. Allein, er hatte seine dunkle Seite. Selbst unter den Bedingungen der Zwischenkriegszeit, als judenfeindliche Sprüche zum alltäglichen Umgangston gehörten, war er ein ungewöhnlich hasserfüllter Antisemit. Schon 1919 hatte Kunschak einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der ein Sonderrecht für Juden vorsah. 1920 sprach er sich für die Einweisung von Juden in Konzentrationslager aus, sollten sie nicht freiwillig auswandern. Als Hitler im Herbst 1935 die Nürnberger Rassengesetze erließ, holte Kunschak seinen erfolglosen Entwurf von 1919 aus der Schublade und propagierte ihn erneut. Wiederum erfolglos. Offener Antisemitismus war den autoritären Ständestaat fremd. Die österreichischen Juden konnten sich unter dem Regime Dollfuß/ Schuschnigg ungeliebt, aber sicher fühlen. Das Problem des katholischkonservativ Lagers mit seiner Geschichte lässt sich in wenigen Worten umreißen: erstens der geradezu endemische Antisemitismus, der zu den Wurzeln der Bewegung gehört, und zweitens das Abgleiten in den Autoritarismus unter Dollfuß. Beide Sünden waren schon 1945 so offensichtlich, dass man die alte Christlichsoziale Partei als Österreichische Volkspartei neu gründete, um das alte Erbe abzustreifen. Dass dieser Schachzug geschichtspolitisch nicht zum gewünschten Erfolg führen konnte, offenbarte schon der Name des 73jährigen Gründungsobmanns: Leopold Kunschak. Es dauerte Jahrzehnte, bis die ÖVP hartnäckig verteidigte Positionen aufgab. 2016 wurde zum letzten Mal der LeopoldKun schakPreis verliehen. Und anlässlich der Renovierung des Parlaments verschwand das berühmtberüchtigte DollfußBild 2017 aus den Klubräumlichkeiten der ÖVP. Mittlerweile sind führende Proponenten dieser Partei, Kanzler und Innenminister) sogar bereit, die umstrittene Bezeichnung „Austrofaschismus" für das DollfußSchuschniggRegime anzuerkennen. Was freilich nach Meinung des Autors mehr auf Geschichtsvergessenheit und Desinteresse und weniger auf kritisch reflektierte Einsicht schließen lässt. Antisemitismus überall Aber waren die Christlichsozialen wirklich allein für das Scheitern der Ersten Republik verantwortlich? Stimmt es tatsächlich, dass die Sozialdemokratie immer „auf der richtigen Seite der Geschichte" stand, wie die Wiener SPÖ kürzlich über die sozialen Medien selbstgerecht verbreiten ließ? Lag die Schuld daran, dass die Hürden für eine Zusammenarbeit der großen Parteien gegen den Nationalsozialismus 1933/34 unüberwindlich geworden waren, nicht zu einem erheblichen Teil auch bei den Sozialdemokraten?
Dass es auch in dieser Partei ein gehöriges Maß an Antisemitismus gab, ist unbestreitbar. Entsprechende Belege finden sich mehr als genug. (Freilich war die SDAP die einzige Parlamentspartei der Ersten Republik ohne antisemitische Punkte im Parteiprogramm.) Wesentlich schlimmer war die ideologische Leitlinie, an der sich die sozialdemokratische Politik zwischen 1918 und 1934 ausrichtete: „Demokratie, das ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel." Was „Sozialismus" bedeutete, glaubte man auf der Gegenseite nur zu genau zu wissen. Die schreckliche Entwicklung in Russland stand dem Bürger und Bauerntum in Mittel und Westeuropa deutlich vor Augen. Dazu passte, dass der sozialdemokratische Parteiführer Otto Bauer die Oktoberrevolution zu jedem Jahrestag hochleben ließ, bei aller Kitik seine proletarische Solidarität mit der Sowjetunion bekundete und größtes Verständnis für brutale Maßnahmen Stalins zeigte. Politik der radikalen Phrase
Der Politologe Norbert Leser hat diese Haltung als „Politik der radikalen Phrase" charakterisiert. Phrase? Vielleicht. Aber aus der bürgerlichen Sicht der Zeit war der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, die Sozialdemokraten wollten den Bolschewismus mit dem Stimmzettel einführen was wiederum entsprechende Gegenreaktionen auslösen musste. Von Leser stammt, auch die Thesevon der „geteilten Schuld in Bezug auf die katastrophale Entwicklung der Ersten Republik. Sie wurde und wird von links heftig bekämpft. Mir scheint darin allerdings immer noch beträchtliche Deutungskraft zu liegen.
Kurt Bauer (* 1961) ist Historiker und Buchautor. Zuletzt erschienen: „Der Februaraufstand 1934. Fakten und Mythen" (Boh lauVerlag 2019).
-- Diem Peter, Samstag, 18. März 2023, 17:24
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