DIE GESCHLECHTERTÜRME OBERITALIENS IM KONTEXT DER GESCHICHTE DES EUROPÄISCHEN SONDERWEGS#
Michael MitterauerIn einer vergleichenden Geschichte der Türme des mittelalterlichen Europa nimmt Oberitalien eine Sonderstellung ein. Keine andere Region des europäischen Kulturraums ist durch eine ähnliche Vielzahl von Türmen charakterisiert. Neben den „campanili“, also den kirchlichen Glockentürmen, kommt den sogenannten Geschlechtertürmen besondere Bedeutung zu. Nach ihrem äußeren Erscheinungsbild können sie das gängige Klischee vom „finsteren Mittelalter“ bestätigen. In sozialgeschichtlichem Kontext betrachtet sind sie hingegen eine wesentliche Ausdrucksform jenes „europäischen Sonderwegs“, der zu den heutigen Verhältnissen in diesem historischen Kulturraum führt. So lassen sich die Geschlechtertürme Oberitaliens in einen spannungsreichen Kontext einordnen, der eine nähere Analyse verdient.
Zu den Bildern, die unsere Vorstellungen begleiten, wenn wir über mittelalterliche Geschlechtertürme sprechen, gehört San Gimignano als das „Manhattan des Mittelalters“. Auf einem Hügel nördlich von Siena liegt das kleine Städtchen hoch über dem Tal der Elsa in der Toskana. Mächtige Adelstürme beherrschen das Bild. Lehensleute der Bischöfe von Volterra haben sie errichtet. Nicht alle Vasallen von geistlichen oder weltlichen Herren dieser Region konnten solche hochragenden Wehrbauten errichten. Das eindrucksvolle Panorama hat einen spezifischen wirtschaftshistorischen Hintergrund. Der Schlüssel zum Verständnis von San Gimignano ist die beherrschende Rolle der Stadtmagnaten im mittelalterlichen Safranhandel. Safran war ein viel begehrtes Gewürz und ließ sich auch als Färbemittel gebrauchen. Mit dem Safranhandel konnte man viel Geld machen. Der Reichtum dieser Handelsstadt im Mittelalter lässt diese eindrucksvolle Konzentration von Geschlechtertürmen verstehen. 1990 wurde die Stadt von der UNESCO zum Weltkulturerbe der Menschheit erklärt.
Ein anderes Bild, das mit mittelalterlichen Geschlechtertürmen assoziiert wird: Die italienische Tourismussprache kennt den Begriff der „città delle cento torri“ – also der „Stadt der hundert Türme“. Der Begriff ist ein Appellativ, das heute von vielen Städten beansprucht wird, die noch bis in die Gegenwart über zahlreiche eindrucksvolle Geschlechtertürme aus vergangenen Zeiten verfügen. Eine eher beliebig erscheinende Liste solcher „città delle cento torri“ aus einem Wikipedia-Eintrag sei beispielhaft herausgegriffen. Er nennt in dieser Kategorie: Alba in der piemontesichen Provinz Cuneo, Albenga bei Savona an der tyrrhenichen Küste, Ascoli in der Region Piceno, Bologna in der Emilia-Romagna, Chieri in der Provinz Turin, Pavia am Po sowie wiederum San Gimignano. Alle diese Städte sind im Hochmittelalter als Handelszentren bedeutsam gewesen. Alba, Asti und San Gimignano liegen an der traditionsreichen „Via Francigena“, die als wichtige Hauptverkehrsverbindung von Nordwesteuropa nach Rom sowohl für Pilgerfahrten als auch für den ertragreichen Fernhandel große Bedeutung hatte. Die „kommerzielle Revolution“ des Hochmittelalters hat diese Städte so bedeutsam gemacht. Besonders fortschrittliche Handelsmetropolen sind also hier die Basis für die Vielzahl feudaler Türme, die zum Teil bis heute das Stadtbild beherrschen. Für Bologna sei diesbezüglich – neben zahlreichen anderen – auf die beiden markanten Zwillingstürme Torre degli Asinelli und Torre Garisenda verwiesen, die wegen ihrer Schieflage und ihrer außerordentlichen Höhe von bis zu 97 Metern zum Statussymbol dieser „Stadt der hundert Türme“ geworden sind.
Pisa als Beispiel für Geschlechterkonflikte#
In welches Spannungsverhältnis gesellschaftlicher und kultureller Gegensätze die Geschlechtertürme Oberitaliens eingeordnet zu sehen sind, das wird sehr anschaulich an einer bemerkenswerten Urkunde aus Pisa bewusst. 1088/92 wurde hier der „Lodo sull’altezza delle torri“ des Bischofs Daimbert abgeschlossen – also der Schiedsspruch des Bischofs über die Höhe der Turmbauten in der Stadt. Diese Urkunde stammt aus einer Zeit, als das künstlerisch so bedeutsame Domensemble vom Pisa gerade zu bauen begonnen wurde, aus einer Zeit, in der die Republik Pisa ihren Frühkolonialismus auf der Insel Sardinien voranzutreiben begann, aus einer Zeit, in der die freien Kommunen in der Toskana ihre politische Autonomie begründeten und sie architektonisch eindrucksvoll ausgestalteten. Man würde in Hinblick auf diese Entwicklungen also von einer Zeit des politischen und kulturellen Aufstiegs sprechen – und trotzdem handelt dieses Dokument fast ausschließlich von Maßnahmen, die ergriffen werden mussten, um die gewalttätigen Auseinandersetzungen, die zwischen den führenden Adelsgeschlechtern ausgebrochen waren, einzudämmen und rechtlich unter Kontrolle zu bringen. Die Rolle der Geschlechtertürme war im urbanen Leben von Pisa zu einem verhängnisvollen Problem geworden. Nicht als Stadtherr, aber als eine anerkannte Autorität in der sich entwickelnden Stadtrepublik ergriff der Bischof mit einigen Großen der Stadt die Initiative, um ordnend einzugreifen. Gleich die einleitenden Sätze der Urkunde sprechen den Anlass des Einschreitens an: „zahllose Morde und Verbrechen“.
Um 1090 formuliert fällt der Schiedsspruch Bischof Daimberts in die Frühzeit der Epoche, in der die oberitalienischen Geschlechtertürme entstanden. Und trotzdem war es schon damals notwendig, gegen die Tendenz, immer höhere Türme zu bauen, wegen ihrer gefährlichen gesellschaftlichen Folgen einzuschreiten. Bereits Daimberts Vorgänger Bischof Gerhard hatte sich zu ersten Maßnahmen in diese Richtung gezwungen gesehen. Genua als die zweite große Seerepublik am Tyrrhenischen Meer folgte erst viel später solchen Beschränkungen, nämlich 1196 mit einer Limitierung der Turmhöhe mit maximal zwanzig Meter. Dort war nur der Familie der Embriachi ein höherer Turm erlaubt, weil deren Ahnherr Wilhelm bei der Eroberung von Jerusalem 1099 während des Ersten Kreuzzugs besonders heldenhafte Leistungen erbracht hatte. In Pisa gab es Ausnahmebestimmungen für die Nachkommen des Vizegrafen Ugo, der als Anführer der Pisaner im Kampf gegen die Sarazenen gefallen war und als Märtyrerheld verehrt wurde, und in ähnlicher Weise für die Nachkommen eines Siegers über die Sarazenen bereits aus dem zweiten Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts. Solche historischen Verdienste hatten Vorrang vor der grundsätzlich postulierten Gleichheit zwischen den Großen der Stadt. Für sie galten sonst grundsätzlich zwei offenbar kurz vor 1088 fertiggestellte Türme als Limit. Innerhalb der Stadtmauern war das die „domus“ Stephans, des Sohnes Balduins, in der Vorstadt Quinzica der Turm Guinizos, des Sohnes des Guntolino. Diese beiden Türme waren also damals offenbar noch voll im Besitz der engsten Familienangehörigen - also „Geschlechtertürme“ im Vollsinn des Wortes. Innerhalb von Abstammungsgruppen und über diese hinaus kam es ja in späterer Zeit vielfach zu einer Zersplitterung von Besitzanteilen.
Die Anfänge der Geschlechtertürme in der Toskana#
Dass es in der Toskana bereits im 10. Jahrhundert zum Bau von Geschlechtertürmen kam, ist wahrscheinlich. Schon 948 gestattete König Lothar II. seinem „missus“ Waramund in Lucca Türme und Kastelle mit Zinnen zu bauen mit allem, was zum Kriegführen nötig ist. Diese Erlaubnis galt nicht für übertragenes Königsgut, sondern ausdrücklich für den Eigenbesitz des Amtsträgers. 979 wird in Lucca eine „turris qui dicitur Mutia“ genannt und 999 schenkte Kaiser Otto III. dem Bischof von Florenz Türme in Lucca. Das nur zwanzig Kilometer von Pisa entfernte Lucca war die alte Hauptstadt des langobardischen Dukats bzw. dann der karolingischen Markgrafschaft. Welches der beiden Zentren hinsichtlich des Turmbaus den zeitlichen Vorrang hatte, lässt sich schwer entscheiden. Die Hafenstadt Pisa entwickelte sich damals jedenfalls weit dynamischer als die ältere Fürstenresidenz. In beiden Städten gab es zahlreiche Geschlechtertürme. Im 14. Jahrhundert war man in Lucca stolz auf angeblich 250 Türme. Dass hier nur mehr wenige in voller Höhe zu sehen sind, hängt wohl mit der Entwicklung der Stadtrepublik zur Signorie zusammen, die radikal gegen die alten Geschlechtertürme vorging. Zwei erhalten gebliebene Geschlechtertürme erscheinen besonders bemerkenswert. Der eine ist die „Torre delle Ore“, die die Gemeinde von einem Adelsgeschlecht ankaufte und 1390 zu einem Uhrturm mit Stundenschlag ausbauen ließ - einem der ältesten überlieferten. Der andere ist die „Torre Guinigi“. Sie ist durch die kontinuierlich fortgeführte Bepflanzung mit Steineichen auffällig – ein nostalgischer Ausdruck der bleibenden Kontinuität dieser traditionellen Bauform bis in die Gegenwart.Die Entstehungszeit der Geschlechtertürme in Oberitalien und in der Toskana dürfte regional unterschiedlich anzusetzen sein. In den Hafenstädten an der Tyrrhenischen Küste war die Erreichung der militärischen Überlegenheit gegenüber den Sarazenen sicher eine entscheidende Voraussetzung. Das gilt für Genua, für Albenga und Savona. Viel spricht hier für einen zeitlichen Vorrang von Pisa. Mit der Ausschaltung der Sarazenengefahr von der Seeseite her kam es auch entlang der Durchzugsstraßen über die Alpenpässe in den Nordwesten Europas zu einem raschen kommerziellen Aufschwung. Das gilt vor allem für die Städte des Piemont, also in der Region „zu Füßen der Berge“. Besonders reich an Geschlechtertürmen waren hier Städte wie Alba, Chieri und vor allem Asti. Sie lagen an den großen Handelsstraßen zu den internationalen Jahrmärkten der Champagne, auf denen es zu einem regen Austausch mit den wirtschaftlich fortgeschrittenen Regionen Nordwesteuropas kam. Hier wurden neue Methoden der Finanztransaktionen in großem Maßstab entwickelt. Bis heute sind Einrichtungen und Begriffe des hier aufblühenden Finanzwesens von den „Lombarden“ abgeleitet, die aus dieser Region über das Gebirge zogen. Vor allem die Stadt Asti ist mit den Frühformen des Bankwesens verbunden. In der Toskana gilt Ähnliches für Lucca, das eine analoge Schlüsselstellung im Verkehrsnetz einnahm. Der Bau von Geschlechtertürmen war eine kostspielige Angelegenheit. Kapitalkräftige Führungspersönlichkeiten der Städte vor den Alpenübergängen haben hier zur Entstehung und Entwicklung von „città delle cento torri“ geführt. Paradox ausgedrückt könnte man formulieren: Feudaler Türmebau und frühkapitalistisches Finanzwesen sind in dieser Region im Hochmittelalter zu Partnern geworden. Der Frühkapitalismus Oberitaliens war seinerseits ein entscheidender Faktor des europäischen Sonderwegs der Gesellschaftsentwicklung.
Lehensleute und frühe Kapitalisten#
Trotz solcher stark patrilinear-gentiler Strukturen unter den Besitzern von Geschlechtertürmen zeigt gerade die Situation in Piemont, dass Geschlechtertürme nicht dauerhaft in den Händen eines adeligen Klanverbands verblieben. Es kam zu Aufsplitterungen sowie zu einem Nebeneinander mehrerer Anteileigner in Form von Genossenschaften, die man wegen der Gemeinsamkeit ihrer „sortes“, das sind Anteile, als „consorzerie“ bezeichnete. Noch weiter ging die Entwicklung genossenschaftlicher Elemente bei den „casane“ von Asti. Das auch diese Sozialform sich von Hausgemeinschaften ableitete, zeigt der etymologische Konnex mit „casa“ also Haus. Letztlich entwickelten sich solche „casane“ zu mächtigen Zusammenschlüssen von Bankiers. Die Astigianer verfügten über viel an Kapital zur Finanzierung großer Bankgeschäfte. Auch diese „casani“ von Asti drücken die Entwicklungsdynamik aus, die hier von Stadtadeligen ausging und zu modernen Spekulationskonsortien führte.Für die Geschichte der Geschlechtertürme, aber auch für die Sozialgeschichte im Allgemeinen sind solche Veränderungen sozialer Gruppen und mit ihnen korrespondierender Begriffe von Bedeutung. Geschlechtertürme konnten Wehranlagen sein, sie standen jedoch auch mit Wohnanlagen in Verbindung. Geschlechtertürme konnten die Basis für Verteidigungsgemeinschaften sein, die für weitere genossenschaftliche Sozialformen offen waren. Grundlegend ist der Zusammenhang von „torre“ und „casa“. Die Verbindung von wehrhaftem Turm und adeligem Wohngebäude ist das Grundmodell, aus dem sich die oberitalienischen Bauphänomene dieser Art entwickelten. Wenn vereinzelt auch in diesem Raum mehrstöckige Wohntürme als Varianten auftreten, so entkräftet das nicht das Grundmodell, dass hier „casa“ und „torre“ die entscheidende Basis der baulichen Entwicklung darstellten. Dieser grundsätzliche Konnex wirft allerdings das terminologische Problem auf, dass mit „Geschlechterturm“ bzw. „torre gentilizia“ oder „casatorre“ eigentlich nur eine Seite des sozial zusammengehörigen Phänomens angesprochen ist. Wahrscheinlich ist Florenz jene Stadt in der Toskana, in der sich die von den „casatorre“ ausgehende Entwicklung von Geschlechtertürmen in besonders vielfältigen Formen beobachten lässt. Die Zahl solcher Türme lag hier weit über hundert. Durch städtische Verordnungen kam es jedoch 1254 zu einer allgemeinen Reduktion der Turmhöhe auf 28 Meter, so dass auch heute vielfach nur mehr Turmstümpfe zu erkennen sind. Das Panorama der Stadt erscheint dementsprechend nicht so stark durch Geschlechtertürme geprägt, wie das etwa bei San Gimignano der Fall ist. Zudem sind die verbliebenen Geschlechtertürme optisch stets in Zusammenschau mit Kirchtürmen zu sehen. Bezeichnend erscheint, dass schon vor der Reduktion der Geschlechtertürme keiner von ihnen höher sein durfte als der Turm des Bargello, also der des älteren Kommunalpalasts, bzw. der des Campanile der Kathedrale. In der Gestaltung oberitalienischer Türmelandschaften konnten schon damals die Türme, die man der Kirche zuordnen konnte, und die der weltlichen Macht durch vorgegebene Höhenbeschränkungen nach Rangigkeitskriterien aufeinander abgestimmt werden.
Bruchstein und Ziegel#
Die älteren Geschlechtertürme in der Toskana sowie insgesamt die zeitlich früheren Vertreter solcher Anlagen von Befestigungen wurden in der Regel aus Steinmaterial errichtet. Bei jüngeren hingegen dominiert die Ziegelbauweise. Für diese unterschiedlichen Tendenzen gab es geologische Voraussetzungen. Anders als in Gebirgsregionen und Hügellandschaften standen in der Po-Ebene verschiedene Tonarten zur Verfügung. Die Massenanfertigung von Ziegeln, die die Bauweise in der Antike beherrscht hatte, setzte arbeitsorganisatorische Bedingungen voraus, die im Frühmittelalter nicht mehr gegeben waren. Eine industrielle Ziegelproduktion machte hohen Kapitaleinsatz notwendig. Bedingung dafür war eine höher entwickelte Geldwirtschaft. Im Hochmittelalter war sie in Oberitalien gegeben. Bologna bietet ein anschauliches Beispiel wie einerseits geologische Bedingungen, andererseits die Verfügbarkeit von Kapital einen intensiven Bau von Geschlechtertürmen ermöglichten. Die „cento torri“ wurden hier bei weitem überboten. Auch die Turmhöhe erreichte hier außerordentliche Dimensionen. Das dürfte mit einer weiteren geologischen Bedingung zusammenhängen. In der Gegend von Bologna stand ein besonders hartes Gestein zur Verfügung – nämlich Selenit. Die Basis der Türme wurde vielfach aus Selenit geschaffen. Erst auf dieser Grundlage wurde mit Ziegeln gebaut, die ihrerseits höhere Stabilität ermöglichten. Es wirkten hier also zweierlei geomorphologische Bedingungen zusammen. Dass diese für einen stabilen Bau von Geschlechtertürmen genutzt werden konnten, das wäre ohne den besonderen Reichtum der Bologneser Führungsschicht aber wohl kaum in diesem Ausmaß wirksam geworden. Sehr unterschiedliche Faktoren natürlicher Voraussetzungen und ihrer technologischen Nutzung wirkten also mit soziopolitischen Entwicklungen zusammen, die wieder aus einer besonders günstigen Verkehrslage zu erklären sind. So konnte es in Bologna zu einer beachtlichen Dynamik des Türmebaus kommen, der gerade diese Stadt zum Inbegriff einer „cittá delle cento torri“ werden ließ.Geschlechtertürme als Besonderheit von Reichsitalien#
Die hier - von „Städten mit hundert Türmen“ ausgehend - behandelte Großregion lässt sich als ein spezifischer europäischer Kulturraum der Geschlechtertürme auch in kontrastierender Gegenüberstellung zu benachbarten Regionen definieren. Mit der Toskana beginnend wurden beispielhaft Städte des Piemont, der Lombardei und insgesamt der oberitalienischen Tiefebene besprochen. Im Wesentlichen treten Städte mit einer hohen Zahl von Geschlechtertürmen in jenem Raum auf, den man für das Hochmittelalter als „Reichsitalien“ charakterisieren kann. Kontrastierend zu dieser herrschaftlich definierbaren Einheit fehlen sie im Süden der Apenninenhalbinsel. Der so genannte „Mezzogiorno“ wurde von dieser sozialen Form, die sich aus dem „casatorre“-Typ entwickelt hat, nicht erfasst. Dem byzantinisch geprägten Süden blieb dieses Phänomen fremd. Das gilt für die aus solchen Wurzeln hervorgegangenen Seerepubliken Gaeta und Amalfi – ganz ähnlich übrigens im Norden für Venedig und seine Territorien, die nie zu Reichsitalien zählten. Im Süden sind vor allem die Gebiete der „Langobardia minor“ mit ihren Zentren in Benevent, Salerno und Capua zu dieser umfassenden Zone ohne Geschlechtertürme zu zählen.Entscheidende Prägungen dieser beiden unterschiedlich strukturierten Großregionen wurden vor allem durch die von Karl dem Großen vollzogene Vereinigung von Frankenreich und „Langobardia maior“ bewirkt, auf die der Zusammenschluss des Ostfränkischen Reichs mit dem langobardischen Königreich in Oberitalien durch die Ottonen folgte. Das Frankenreich war in seiner Grundstruktur auf der Basis des Lehenswesens aufgebaut. Die von karolingischen und ottonischen Kaisern und Königen eingesetzten Reichsbischöfe sowie die von ihnen belehnten Amtsträger in Reichsitalien beherrschten jene Städte, in denen es seit dem 10. Jahrhundert zur Errichtung von Geschlechtertürmen kam. In den byzantinisch geprägten Gebieten des Südens fehlte diese Verfassungsstruktur. Als die Anjou als Könige von Neapel und Sizilien französische Lehensformen einn, war dieser Strukturtypus hier nicht mehr relevant. Eine interessante Zwischenstellung nahm in der Grenzzone zwischen Reichsitalien und dem Süden die Stadt Rom ein, die in vorkarolingischer Zeit ja auch noch zum Byzantinischen Reich gehört hatte. In Rom gab es schon seit dem 9. Jahrhundert führende Adelsgeschlechter, die antike Ruinen zu Festungen ausbauten. Der „casatorre“-Typ im engeren Sinne tritt hier hingegen erst relativ spät auf. Einen bemerkenswerten Sonderfall stellt in Rom die Familie der Pierleoni mit ihren Baulichkeiten dar. Ursprünglich jüdischer Abkunft erlangten sie als Geldgeber der Päpste Bedeutung und traten im 11. Jahrhundert zum Christentum über. Nun fanden sie Anschluss an den alten römischen Stadtadel und erwarben zahlreiche Häuser, die sie zum Teil auch befestigten. Als Hauptsitz der Pierleoni galt eine „casatorre“ in Trastevere. Die Errichtung von Geschlechtertürmen setzte das Befestigungsrecht der Erbauer voraus. In den von Byzanz geprägten Regionen gaben der Kaiser und ihm folgend einheimische Fürstengeschlechter dieses Recht nicht aus der Hand. In Reichsitalien hingegen wurde es in Perioden der Schwäche des Königtums seit dem 9. Jahrhundert systematisch an Reichsbischöfe und Reichsfürsten vergeben. In den Zeiten der besonderen Bedrängnis Oberitaliens durch Ungarn, Sarazenen und Normannen ging das Befestigungsrecht sukzessive an die Großen des Reiches über, die es ihrerseits an Adelige und reiche Bürgerfamilien zum Schutz von Stadt und Land freigaben. Das Befestigungsrecht wurde so ein zentraler Faktor in der Abfolge der dominanten Verfassungsformen Reichsitaliens. Auf große Lehensträger folgten „freie Kommunen“ und schließlich die Signorie, die die streitenden Geschlechterverbände durch eine autoritäre Zentralgewalt ablöste. Diese Ablöse der Kommunen durch die Signorie kam – von der Geschichte der Türme her gesehen – mitunter dadurch zum Ausdruck, dass ein bisheriger Geschlechterturm bestehen blieb und zur „torre civica“, also zum Gemeindeturm, ausgebaut wurde. Als Beispiel dafür kann die „Torre dei Alberti“ in Verona dienen, die von ursprünglich 37 Metern auf 56 Meter erhöht wurde.
Ein Kontext im Kontext#
Reichsitalien wurde im Hoch- und Spätmittelalter zu einer besonders fortschrittlichen Region des europäischen Kulturraums. Die Geschlechtertürme der oberitalienischen Städte gehören somit in einen historischen Zusammenhang, der für die Sonderentwicklung Europas im interkulturellen Vergleich sehr wesentlich wurde. Der große Geschichtssoziologe Max Weber hat dieser Region in seinen Mittelalterstudien besondere Bedeutung beigemessen. Er hat die von ihm behandelten Besonderheiten nicht monokausal erklärt. Vielmehr betonte er „eine Verkettung von Umständen“, die den europäischen Sonderweg bedingt haben. In diesen Kontext gehören auch die Geschlechtertürme Oberitaliens. Einige dieser Faktoren sollen abschließend nochmals aufgegriffen werden. Eines der für den europäischen Sonderweg besonders relevanten Phänomene ist der Kommunalismus – mit allen seinen Ambivalenzen, die hier schon angedeutet wurden. Vorreiter der Kommunalbewegung wurden in Italien die großen Seerepubliken – Pisa, Genua und Venedig. Venedig kam aus byzantinischer Tradition und hatte in seinen Gebieten keine strukturellen Voraussetzungen für Geschlechtertürme. Die gemeinsame Einflussnahme der großen Seerepubliken in Oberitalien stammte aus einem besonderen Bedingungsfaktor – nämlich dem enormen Wachstum des Handels mit dem Orient im Verlauf des Hochmittelalters. Die dadurch ausgelöste kommerzielle Revolution ermöglichte – auch über Venedig vermittelt - den wirtschaftlichen Aufschwung Reichsitaliens. Als Bedingungsfaktor für die Entstehung der „città delle cento torri“ ist er wiederholt begegnet, ebenso seine Bedeutung für die Entwicklung des europäischen Bankwesens in den lombardischen Handelszentren. In der „Verkettung von Umständen“, der den Aufstieg Reichsitaliens begünstigte, ist dieser Frühkapitalismus im Finanzwesen sicher eine der entscheidenden Bedingungen. Banker und ritterliche Lehensleute begegnen hier in enger sozialer Verflechtung.Der Vorstoß des Frankenreichs in den Süden, um den Papst in Rom zu schützen und zugleich auch zu kontrollieren, begünstigte ein weiteres Spannungsfeld in Reichsitalien, das mit den Geschlechtertürmen dieser Region zusammenhängt. Papsttum und Kaisertum wurden zunächst zu fruchtbaren Partnern – mit der Zeit aber auch zu heftigsten Konkurrenten. Die oberitalienische Kommunebewegung ist ohne den Rückhalt am Papsttum nicht zu verstehen. Aber ebenso ist dieses Zeitalter der „freien Kommunen“ von blutigen Auseinandersetzungen geprägt. „Guelfen und „Ghibellinen“ als Nachfolger der päpstlichen und der kaiserlichen Parteigruppen standen einander in Reichsitalien in erbitterter Feindschaft gegenüber. Und sie beeinflussten maßgeblich die blutigen Kämpfe der adeligen Fraktionen, die in der Blütezeit der Geschlechtertürme von Turm zu Turm ausgefochten wurden. Auch dieses brutale und grausame Element gehört zu den spannungsreichen Strukturen Oberitaliens. Kann man diese militärischen Auseinandersetzungen als eine progressive und fortschrittliche Kraft in Oberitalien und zugleich für den europäischen Sonderweg bewerten? Die „Kultur der Renaissance in Italien“ (Jacob Burckhardt) ist ein sehr positiv konnotiertes Endprodukt aus Entwicklungen in diesem Zeitalter der Geschlechtertürme. Der „Herbst des Mittelalters“ (Jan Huizinga) kann in einem solchen Narrativ zu einem hoffnungsvollen Frühling der „Neuzeit“ übergeleitet werden. Die Geschlechtertürme Oberitaliens waren nicht nur Ausdrucksformen eines „finsteren Mittelalters“, das man durch Einziehen einer Epochengrenze abschließen kann. Die Strukturen, die damals geschaffen wurden, wirken weiter. Der „Mezzogiorno“ Italiens ist bis heute eine Armutszone Europas, in der die Migration der jüngsten Vergangenheit die sozialen Verhältnisse dramatisch verschlimmert. Die „Lega Nord“ als politische Vertreterin des reichen Nordens sucht ihre historischen Identifikationssymbole in der Kommunalbewegung des Mittelalters. Die Geschlechtertürme Oberitaliens im Kontext der Geschichte des europäischen Sonderwegs bleiben so weiterhin ein aktuelles Thema.
LITERATUR#
- Klaus Tragbar, Vom Geschlechterturm zum Stadthaus. Studien zu Herkunft, Typologie und städtebaulichen Aspekten des mittelalterlichen Wehrbaus in der Toskana (Beiträge zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 10, 2003)
- Michael Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003
- Bernd Roeck, Der Morgen der Welt: Geschichte der Renaissance, München 2017
- Michael Mitterauer und John Morrissey, Pisa. Seemacht und Kulturmetropole, Essen 2007
- Gabriella Rossetti. Il lodo del vescovo Daiberto sull’altezza delle torri: prima carta constituzionale della repubblica pisana, in: Pisa e la Toscana occidentale, Pisa 1992
- Hagen Keller, Die Erforschung der italienischen Stadtkommunen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, in: Frühmittelalterliche Studien 48, 2014
- Paul Harrison, The tower-societies of medieval Florence, 2005
- Edoardo Grendi, Profilo storico degli Alberghi genovesi 1975
- Max Weber, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter 1889
- Adolf Reinle, Lombarden, in: Lexikon des Mittelalters 5, Stuttgart 1999, Sp. 2098 ff
- Heinz Gaube, Ziegelbau, in: Lexikon des Mittelalters 9, Stuttgart 1999, Sp. 599