Anna KIM: Geschichte eines Kindes#
Anna KIM: Geschichte eines Kindes / Roman, Suhrkamp, 2022 / Rezension von GUENTHER Johann
KIM, Anna: „Geschichte eines Kindes“, Berlin 2022
„Als Autorin werden mir von Zeit zu Zeit Geschichten geschenkt. Geschichten, die mehr sind als Geschichten, Geschichten, die Welten in sich tragen.“ So beschreibt die Autorin das vorliegende Buch in ihrer Einleitung. Sie sieht es als ein „äußerst kostbares Geschenk“, solche Texte zu bekommen und sie fühlt sich auch verpflichtet damit verantwortungsvoll und respektvoll umzugehen. Im ersten Kapitel erzählt sie dann, dass sie 2013 ein Semester als „Writer in Residence“ im mittleren Westen der USA verbrachte. Mit der ihr angebotenen Gästewohnung der Universität war sie unzufrieden und übersiedelte in ein Zimmer einer alten Dame, von der sie die Protokolle aus der Kindheit ihres Mannes bekam. Der Ehemann dieser Frau war ein weggelegtes Kind. Seine junge Mutter gab das Kind zur Adoption frei. Da sich aber herausstellte, dass es eventuell einen „colored“ Vater hatte und die Mutter nicht bereit war den Namen des Mannes zu nennen, wurde die Adoption beziehungsweise das Sorgerecht für das Kind sehr kompliziert. Experten arbeiteten an einer rassistischen Zuordnung, die aus heutiger Sicht befremdend wirkt. „Daniel hat nun eine leichte Trichternase, sie ist etwas breiter und derber im Vergleich zu unserer Nase. Die Obernase ist jedoch dabei, sich zu erheben. An ihr ist gut erkennbar, dass es sich bei ihm um ein Rassengemisch handelt – sein Gesicht erinnert an unseres, obwohl noch Primitives darin zu spüren ist.“ (Seite53) Für Adoptiv- oder Pflegeeltern ist es ein Hindernis, ein andersfärbiges Kind anzunehmen. So wird etwa bei einem interessierten Pflegeelternpaar vermerkt: „Ein farbiges Kind sei ein Risiko: Walt, der in einer Stadtverwaltung arbeite, habe einen Ruf zu verlieren. Es würde viel Gerede um Daniel (dem Baby) geben.“ (Seite 58) Selbst die katholische Einrichtung fand es „unverantwortlich, ein herrenloses Kind in eine bestehende, gesunde Familie zu bringen.“ (Seite 62) Die Verschiedenheit im Aussehen ruft auch bei der Autorin, deren Mutter Asiatin und der Vater Europäer ist, viel Nachdenkliches hervor, dem sie im Text Platz einräumt.
Eine aus Wien stammende Sozialarbeiterin war mit der Betreuung des Mischling-Babys verantwortlich. Bis zur Klärung der Vaterschaft blieb es in der Obhut eines kirchlichen Hauses. Die junge Sozialarbeiterin arbeitete sehr genau und dokumentierte alles. Als Kim die Protokolle bekommt, ist der 1953 geborene Mann allerdings ein Pflegefall geworden. Anna Kim arbeitete sich durch die übergebenen Unterlagen, führte viele Gespräche und fand in Wien die Tochter der ehemaligen Sozialarbeiterin. Aus all dem Material wurde dieses sehr spannende Buch zusammengestellt. Es zeigte auch, dass die Rasse eines Menschen in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht nur unter den Nationalsozialisten Deutschlands wichtig war, sondern auch im so freien Amerika.
Im Buch sind die Texte der Protokolle unverändert abgedruckt. Sie geben dadurch einen Einblick in die Denkweise der damaligen Zeit. In Amerika wurden andere Rassen – wie in Deutschland die Juden – nicht ermordet, aber doch gemieden. Normalerweise ist die Zeit eines „Writers in Residence“ dazu da, um ungestört an einem Manuskript zu arbeiten. Anna Kim kam aber mit viel neuem Material aus ihrem USA Aufenthalt zurück und letztlich entstand dieses Buch. Ein Zeitzeugnis, das sich über zwei Kontinente erstreckt. Ob man sich dieses wertvollen Ergebnisses auch im Gastgeberland bewusst ist ?