Dorli Draxler, Edgar Niemeczek: Singen - Das goldene Liederbuch#
Dorli Draxler, Edgar Niemeczek: Singen - Das goldene Liederbuch. Volkslieder in Niederösterreich. Christian Brandstätter Verlag Wien 2019. 352 S., ill., € 50,-
Für die Volksmusikforschung war 2019 ein Jubiläumsjahr. Vor 200 Jahren erschien in Pesth die Publikation Österreichische Volkslieder mit ihren Singeweisen. Die Texte und Melodien hatten die Herausgeber Franz Ziska und Max Schottky in einer Feldforschung in der Wiener Umgebung gesammelt. Ebenfalls 1819 rief Joseph Sonnleithner, Mitbegründer der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, zur Aufnahme und Archivierung von Liedgut in allen Kronländern auf und ging selbst mit gutem Beispiel voran. Hundert Jahre später begann die Edition von Das Volkslied in Österreich. Volkspoesie und Volksmusik der in Österreich lebenden Völker. Sie sollte 60 Bände in deutscher, slawischer und romanischer Sprache umfassen, doch vereitelte der Erste Weltkrieg die Edition. Der Probeband von 1918 enthielt rund 150 Lieder und Tänze mit Melodien, Sprüchen, Reimen und Abbildungen. Erst 1993 griff das Volksliedwerk die Idee wieder auf. Unter der Leitung von Walter Deutsch erschienen seither 22 Bände.
2019 haben Dorothea "Dorli" Draxler und Edgar Niemeczek das Goldene Liederbuch "Singen" publiziert. Niederösterreich verdankt ihnen eine Reihe wesentlicher Initiativen wie den Auf- und Ausbau der "Volkskultur Niederösterreich" (seit kurzem ein Betrieb der Kultur.Region.Niederösterreich GmbH), das Festival aufhOHRchen, die Initiative "Wir tragen Niederösterreich", die Kremser Kamingespräche und vieles mehr. Für ihr jüngstes Projekt haben die beiden Pioniere der Kulturarbeit rund 150 Lieder ausgewählt. Neben allgemein bekannten und weit verbreiteten Gesängen auch eine Reihe "Lieblingslieder".
Obwohl alle in sämtlichen Strophen und mit Noten aufscheinen, ist es kein herkömmliches Gesangsbuch. Dafür garantiert schon der, für die qualitätvolle Ausstattung seiner Bücher bekannte, Brandstätter-Verlag. Den illustratorischen "roten Faden" durch die elf Kapitel auf mehr als 350 Seiten bilden thematisch passende Werke der sogenannten Volkskunst, wie bemalte Keramikkrüge und Hinterglasbilder. Außerdem erklären Ausübende wie die Sängerin Agnes Palmisano oder der äußerst aktive Kulturvermittler Norbert Hauer und andere bekannte Persönlichkeiten wie der Schauspieler Miguel Herz-Kestranek oder der Fernsehmoderator Franz Posch ihre Beziehung zur Volksmusik. Das Niederösterreichische Volksliedarchiv hat zur Geschichte der einzelnen Lieder recherchiert, sodass man auch darüber interessante Details erfährt.
Geschichten mit Geschichte eröffnen den musikalischen Reigen. Zu den ältesten "Volksliedern" zählen Balladen, von denen viele in das Mittelalter zurückreichen. Sie schildern historische Ereignisse und zwischenmenschliche Konflikte. Emotionen werden angesprochen, häufig endet die Geschichte tragisch. Echt österreichisch geht es weiter. Bis vor 100 Jahren war die österreichisch-ungarische Monarchie ein Vielvölkerstaat. 53 Millionen Menschen hatten ein Dutzend Sprachen. Seit 1955 gelten Burgenlandkroatisch, Romani, Slowakisch, Slowenisch, Tschechisch und Ungarisch als anerkannte Minderheitensprachen - in denen sich hier Beispiele finden. Das umfangreichste Kapitel machen Lieder über die Liebe aus, die in fast allen mitspielt; und sei es nur in Andeutungen und Umschreibungen. Gefühle werden besungen, auch wenn sie sich nicht mit Worten ausdrücken lassen.
Besonders Städter - und die ersten Volksliedforscher waren solche - fanden Gefallen an dem von ihnen romantisch gesehenen Almleben Bei Sennerinnen und Wildschützen. Dabei kamen wohl Witz und Neckerei nicht zu kurz. Im Buch wird dies ebenso gewürdigt, wie die Verständigung von Alm zu Alm durch Jodeln, Jauchzen und Rufen. Für die meisten Menschen war das Leben jedoch hart. Darauf nehmen die Beispiele der Gruppe Alltag, Arbeit, Armut Bezug. Hier finden sich Standes- und Berufslieder von Bauern, Handwerkern und Wanderhändlern ebenso wie der legendäre "liebe Augustin". Dass man sich vom Alltag nicht unterkriegen ließ, oder zumindest Möglichkeiten für Feiern und Freizeit fand, belegen Tanz- und Trinklieder. Unter den Festen im Lebenslauf, die mit Musik gestaltet wurden, ragt die Hochzeit heraus. Hier vereinten sich Sakrament und profanes Feiern. Ähnliches lässt sich bei Weihnachten und sein Festkreis beobachten. Zur Vorbereitung diente der Advent mit dem Brauch der Herbergsuche. Hirtenlieder künden von der Geburt Christi. Mit Ansingeliedern wünschten umherziehende Sänger in Erwartung milder Gaben ein gutes Neues Jahr. Andere Termine im (alten) weihnachtlichen Festkreis waren der Dreikönigstag und Maria Lichtmess. Geistliche Lieder dienten Zur höheren Ehre Gottes und der Heiligen. Kirchliche Amtsträger haben sie erfunden, Organisten und Vorsänger verbreiteten sie. In schriftlicher Form gelangten Melodien und Texte über Flugblätter und Gebetbücher unter das Kirchenvolk. Folgerichtig schließt das Goldene Buch mit dem "Abschied" in seinen verschiedenen Ausprägungen. Generationen lang bedeutete dies die Trennung der Soldaten von ihren Familien. Der Refrain eines solchen Liedes bringt die universale Hoffnung "Ach wenn doch einmal Frieden wär' " zum Ausdruck.
Dieses Soldatenabschiedslied aus dem 19. Jahrhundert zählt zu den "Lieblingsliedern" der Herausgeber. Sie schreiben, dass sie ihre Auswahl persönlich gehalten und die Kapitel alternativ zur sonstigen Einteilung nach "individuell zu verstehenden inhaltlichen Schwerpunkten" vorgenommen haben. Dorli Draxler und Edgar Niemeczek, denen die Volkskultur Niederösterreich so vieles verdankt, betonen in ihrem Vorwort: Zu den Liedern, die für uns eine besondere Bedeutung haben, verfassten wir sehr persönlich gehaltene Kommentare mit Betonung poetischer und ästhetischer Aspekte. Denn auch in Zukunft möge gelten: Singen ist eine der schönsten Ausdrucksformen des Menschen.