Wolfgang Neugebauer, Der österreichische Widerstand 1938-1945 #
Wolfgang Neugebauer: Der österreichische Widerstand 1938-1945. Edition Steinbauer, Wien 2015
Rezension von Peter Diem
Das Standardwerk über die Bemühungen mutiger Österreicherinnen und Österreicher, wenigstens im unmittelbaren persönlichen Bereich Widerstand gegen das NS-Regime zu leisten, liegt nun in einer überarbeiteten Neuausgabe vor. Die Inhaltsübersicht zeigt bereits die Breite des 350-seitigen Buches. Nach Einleitungstexten über NSDAP, Gestapo, Kripo und NS-Strafjustiz werden die einzelnen "Widerstandskreise" im Detail abgehandelt: dem Widerstand von Sozialisten werden 21 Seiten gewidmet. Der Widerstand von Kommunisten und linken Kleingruppen wird auf insgesamt 54 Seiten beleuchtet, während dem katholischen, konservativen und legitimistischen Widerstand insgesamt 58 Seiten eingeräumt werden. Aber auch der jüdische Widerstand und die Bemühungen von Österreichern im Exil finden ihren Platz. Besonders interessant sind auch die Texte über slowenische und andere in den Alpen wirkende Partisanengruppen, über deren Aktivitäten im Allgemeinen wenig bekannt ist.
Der letzte Teil des Buches ist den Methoden des Widerstands gewidmet - von Flugblättern über Sabotageaktionen bis zu Spionagetätigkeit. Auch die (wenigen) Bemühungen der Bevölkerung, das Los der Juden und Kriegsgefangen zu mildern, finden Erwähnung. Insgesamt ist das Buch um Objektivität bemüht, indem Fakten dominieren und Wertungen vermieden werden. Wie das unten auszugsweise wiedergegebene Resümee zeigt, arbeitet der Verfasser klar heraus, warum sich der österreichische Widerstand im Vergleich zu jenem in anderen Ländern nicht wirklich zu einer wirksamen Kraft entwickeln konnte und damit eine eher symbolische Bedeutung hatte. Das soll aber den vielfach beschriebenen Mut und den selbstlosen Einsatz vieler Einzelpersonen und Kleingruppen nicht mindern. Wie jedes Werk, das ein historisches Teilgeschehen über die sieben von Leid, Grausamkeit und Tod gezeichneten Jahre 1938-1945 zusammenzufassen sucht, kann nicht Vollständigkeit verlangt werden. So fehlt etwa Näheres
zu den Aktivitäten der Katholiken Wilfried Daim und Huber Jurasek, von denen ja in der sonst sehr umfangreichen
Literaturliste nicht erwähnte "Widerstandsbiographien" existieren. Auch Karl Maria Stepan hätte erwähnt werden können.
Besonders einer Generation, die weder vom Kriegsgeschehen berührt wurde, noch über den österreichischen Widerstand informiert ist, sei das Buch wärmstens empfohlen.
Auszug aus dem Resümee des Buches#
Größenordnung, Ergebnisse und Bedeutung des Widerstandes
Den Umfang des Widerstandes in Zahlen oder Größenordnungen anzugeben, ist äußerst problematisch. Wer kann heute feststellen, wie viele Aktivistinnen, Mitglieder oder Sympathisantinnen die in tiefster Illegalität wirkenden Widerstandsgruppen aufwiesen? Bestenfalls ungefähre Anhaltspunkte liefern die Zahlen der Opfer, also die festgenommenen, gerichtlich abgeurteilten oder in KZ eingewiesenen Widerstandskämpferinnen. Das DÖW hat in den letzten 15 Jahren in mehreren Großprojekten eine namentliche Erfassung der NS-Opfer in Angriff genommen, weil nur auf diese - aufwändige - Weise fundierte Ergebnisse möglich sind. Die Namen und Daten der österreichischen Holocaust-Opfer sind schon seit 2000 auf der DÖW-Website veröffentlicht, und 2013 konnte auch das - gemeinsam mit dem Karl Vogelsang-Institut durchgeführte - Projekt „Namentliche Erfassung der Opfer politischer Verfolgung" abgeschlossen werden.(693) Brigitte Bailer und Gerhard Ungar weisen in ihrem zusammenfassenden Beitrag folgende Ergebnisse aus:(694)
Es wurden bislang 63.200 jüdische Opfer namentlich erfasst, eine realistische Schätzung (unter Berücksichtigung nicht mehr eruierbarer Namen) ergibt mindestens 66.000 Personen. Als Opfer politischer Verfolgung wurden 7.974 Österreicherinnen namentlich ermittelt; sie wurden hingerichtet, ermordet, fielen den Haftbedingungen zum Opfer oder begingen im Zuge der Verfolgung Selbstmord. Wenn man die hochgerechnete Zahl der - namentlich nicht erfassten - österreichischen Opfer der Militärjustiz hinzurechnet, kommt man auf rund 9.500 Opfer. Die Zahl der Opfer der NS-Mordaktionen in den psychiatrischen Anstalten und Pflegeheimen beträgt zwischen 25.000 und 30.000.(695) Der Verfolgung der Roma fielen in Österreich mehr als 9000 Menschen zum Opfer.(696)
Insgesamt weist die Gesamtbilanz des NS-Regimes mindestens 110.000 österreichische Todesopfer aus.(697)
Die Gesamtzahl aller aus politischen Gründen inhaftierten Österreicherinnen, also sowohl präventiv Inhaftierte als auch festgenommene WiderstandskämpferInnen, dürfte - grob geschätzt auf Grund von Gestapoberichten und Gerichtsverfahren - in der Größenordnung von etwa 100.000 gelegen sein.(698)
Der Widerstand, sein Ausmaß und seine Bedeutung müssen im Zusammenhang mit dem Gesamtverhalten der ÖsterreicherInnen in der NS-Zeit, d. h. unter Berücksichtigung des österreichischen Nationalsozialismus, der verschiedenen Formen des „Mitläufertums", der partiellen oder zeitweisen Zustimmung von Bevölkerungsgruppen zum System und anderer Faktoren, gesehen werden. Eine solche Beurteilung kann freilich nicht in Form einer Gegenüberstellung von - größenordnungsmäßig - einigen zehntausend Widerstandskämpferinnen mit 700.000 österreichischen NSDAP-Mitgliedern erfolgen; denn die einen hatten ihre gesamte Existenz zu riskieren, die anderen genossen alle Vorteile einer die alleinige Macht ausübenden Staatspartei. Nur - noch weitgehend ausstehende - detaillierte Analysen in kleinen, überschaubaren gesellschaftlichen Bereichen (soziale Gruppierungen, Betriebe, Wohnviertel, Dörfer etc.), die auch die Veränderungen der Stimmung und des Bewusstseins der Bevölkerung von 1938 bis 1945 berücksichtigen, werden hier zu brauchbaren Ergebnissen führen.
Gemessen an der nicht geringen Zahl der Opfer waren die praktischen Ergebnisse des Widerstandkampfes - etwa in Richtung einer Gefährdung des NS-Regimes, einer ernstlichen Schädigung der NS-Kriegsmaschinerie oder der Erringung der Hegemonie in der Bevölkerung - eher bescheiden. Die Befreiung Österreichs von der NS-Herrschaft war nicht das Werk einer Revolution von unten oder eines nationalen Freiheitskampfes, sondern das ausschließliche Verdienst der alliierten Streitkräfte, von denen mehr als 30.000 im Jahr 1945 auf österreichischem Boden gefallen sind. Die WiderstandskämpferInnen konnten damals nicht die Mehrheit der Bevölkerung auf ihre Seite bringen. Und sie standen auch in der Nachkriegszeit gegenüber den vormaligen „Pflichterfüllern" in Wehrmacht, SS und anderen NS-Organisationen politisch-gesellschaftlich zurück.(699) Dennoch darf der Widerstandskampf nicht als eine sinnlose oder vergebliche Sache abgetan werden. Er zeigte, dass nicht alle ÖsterreicherInnen - wie es die 99,7 %-Volksabstimmung vom April 1938 der Welt vorgaukeln sollte - im Lager des Nationalsozialismus waren. Der österreichische Widerstand hatte vor allem einen politischen Stellenwert, und zwar im Sinne der Moskauer Deklaration der Alliierten 1943, in der ein eigener Beitrag Österreichs zu seiner Befreiung gefordert wurde, der bei der endgültigen Regelung des Status Österreichs berücksichtigt werden sollte. Im Zuge der Staatsvertragsverhandlungen ab 1947 wurde diese Forderung der Alliierten tatsächlich präsentiert und von österreichischer Seite der Nachweis des „eigenen Beitrags" zur Befreiung zu erbringen versucht.(700) Nicht zuletzt wurde im Widerstand erstmals der im 20. Jahrhundert vor sich gehende Nationswerdungsprozess, der zur heutigen Identität Österreichs geführt hat, analysiert und politisch verfochten; nicht wenige - KatholikInnen wie KommunistInnen - waren mit einem Bekenntnis zu Österreich in den Tod gegangen.
Schließlich waren Männer und Frauen, die im Widerstand aktiv oder vom NS-Regime verfolgt worden waren, maßgeblich an der Bildung der provisorischen Regierung und am Neuaufbau des politischen Systems und der Verwaltung 1945 beteiligt. Die „Ö5" als wichtigste überparteiliche Widerstandsgruppierung in der Endphase des NS-Regimes hatte vor und während der Befreiung die Vorstellung, das traditionelle Parteiensystem überwinden und das politische Geschehen in Österreich gestalten zu können. Dies erwies sich jedoch im April 1945, als sich die drei Parteien SPÖ, KPÖ und ÖVP sofort konstituierten und in der Bevölkerung und bei den Alliierten durchsetzten, als Illusion ohne jede reale Grundlage. Alle drei Parteien betrachteten sich als antifaschistisch und beriefen sich - nicht zu Unrecht - auf ihre Herkunft aus dem Widerstand gegen das NS-Regime. Der viel zitierte „Geist von 1945", der die Anfangsphase des „neuen Österreich" bestimmte, war das historische Ergebnis auch des Widerstandes. Das (bis heute gültige) Verfassungsgesetz über das Verbot der NSDAP (und jeglicher Wiederbetätigung), die Verfolgung von NS-Tätern auf Grund des Kriegsverbrechergesetzes und der Versuch einer Entnazifizierung waren die wichtigsten Leistungen dieser antifaschistischen Bemühungen. Die nachfolgende politisch-gesellschaftliche Entwicklung Österreichs stand freilich nicht im Zeichen der WiderstandskämpferInnen und NS-Opfer; sie wurde schon bald von der Generation der Kriegsteilnehmer und ehemaligen Nationalsozialisten dominiert, und die Entnazifizierung wurde weitgehend rückgängig gemacht.
In unserer Zeit, in der - zu Recht - sehr viel über österreichische Täter, über Schuld und Verantwortung von Österreichern für den Nationalsozialismus gesprochen wird, in der das mangelnde Eintreten zugunsten jüdischer Menschen und anderer Verfolgter beklagt wird, sollten jene Österreicherinnen und Österreicher, die unter Einsatz ihres Lebens dem mörderischen NS-Regime widerstanden, die ein anderes, ein von humanen und kulturellen Werten geprägtes Österreich repräsentierten, jedenfalls nicht gering geschätzt werden.
Anmerkungen#
693 Die Datenbanken beider Projekte sind nun in einer Datenbank integriert und auf der Startseite der DÖW-Homepage www.doew.at unter Opfersuche zugänglich.
694 Bailer/Ungar, Zahl der Todesopfer politischer Verfolgung, S. 111 ff.
695 Schätzung des Autors aufgrund seiner langjährigen Beschäftigung mit der Thematik.
696 Siehe dazu: Florian Freund/Gerhard Baumgartner/Harald Greifeneder, Vermögensentzug, Restitution und Entschädigung der Roma und Sinti, Wien-München 2004, S. 51 (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission, 23/2 )
697 Bailer/Ungar, a. a. O.
698 Siehe dazu auch: Luza, Widerstand, S. 318
699 Hanisch, Österreichische Geschichte, S. 390
700 Gerald Stourzh, Geschichte des Staatsvertrages 1945-1955. Österreichs Weg zur Neutralität, 2., neu bearb. und erw. Aufl., Graz 1980, S. 27 ff. und 179