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Die Kraft der Poesie#

(Eine Reminiszenz)#

von Martin Krusche

Manchmal verdichten sich Momente, in denen Lyrik eine deutliche Rolle spielt. Das kann sich in einem Pendeln zwischen greifbaren und immateriellen Dingen ereignen. Nächste Klarheiten umschwirren einen gelegentlich wie nervöse, kleine Vögel. Ständig. Erkenntnis gibt es auch in handlichen Ausgaben und nicht bloß in so großen Sätzen, die – einmal aufgezeichnet – nach mehr als zweitausend Jahren immer noch zitiert werden.

Graphic Novelist Chris Scheuer (links) und Musiker Oliver Mally. (Foto: Martin Krusche)
Graphic Novelist Chris Scheuer (links) und Musiker Oliver Mally. (Foto: Martin Krusche)

Ab und zu ergibt sich Erkenntnis auf die Art, daß sich plötzlich ein paar Erinnerungen gut sortieren lassen und auf diese Art ein anschauliches Bild ergeben, das vorher eher undeutlich gewesen ist. Ich hatte eben mit Vera Leon eine kleine Plauderei über Lyrik. „In meiner Heimat werden Gedichte geliebt, gelesen und sogar auf der Bühne inszeniert“, sagte sie. (Leon stammt aus Serbien.)

Das korrespondiert mit einem Augenblick, als sich Oliver Mally nach einem sehr strapaziösen Durchgang bei mir meldete und meinte, wir müßten uns erstens nun bald wiedersehen, er wolle zweitens für mich kochen, drittens würden wir mehr trinken, als selbst der härteste Führerschein aushält. und überdies müsse ich noch etwas Geduld haben, was die Gedichte angehe.

Leon sagte, sie würde sich manche Gedichte aneignen, indem sie sich die Geschichte verdeutlicht, von der das Gedicht handelt. Es sind zwei verschiedene Ebenen, die Geschichte und der Text, welche sich da verzahnen.

Das Interessante fand sich, als ich Mally darauf ansprach, der vor Publikum seine Texte nicht vom Blatt ablesen kann, sondern im Kopf haben muß; und da bei einem beachtlichen Repertoire erstens eigener Texte und zweitens einiger Klassiker. „Und Dylan schreibt keine kurzen Texte“, sagte Mally grinsend. „Wir machst du das?“ fragte ich ihn. Es ist die Story im Text, die er sich verdeutlicht und aneignet, auf die er zugreifen kann, wenn die Erinnerung an den Text selbst holpert.

Die Quest#

Ich hab nachgesehen. Es war heuer im Mai, daß wir übereinkamen, er werde quasi als Lektor meiner aktuellen Gedichte fungieren und sie nach seinem Geschmack ordnen. So notiert in „Fahrt machen“ (Die Quest hat begonnen)

Darin findet sich ein etwas antiquiert wirkendes Wort vor, das nicht mehr allgemein bekannt ist: die Quest. Abenteuerreise. Suche nach Erkenntnis. Gnosis. Unsere Reisen verlaufen gelegentlich etwas holprig. Wege führen uns zu unerwarteten Momenten und Orten. Ein exakter Plan wäre da nur störend. Wir sind in Bewegung. Ein Leben mit all den Verlusten und Gewinnen, die sich dabei ergeben.

Artwork: Jörg Vogeltanz
Artwork: Jörg Vogeltanz

Die Quest bedeutet in keiner Weise, daß wir von unseren Vorhaben abgekommen wären. Sie wirft einen bloß oft in unerwartete Gebiete. Wir surfen diesen bewegten Ozean, unsere Schicksale, da geht es gelegentlich drunter und drüber. Kein Einwand! Außerdem ist der Rückblick zwischendurch sehr reizvoll.

Ways of Blues#

Das vorhin erwähnte Gespräch mit Vera Leon, welches sich nach der Lektüre einiger meiner Texte ergab, ließ mich ein mehrere Markierungspunkte denken, die einen Verlauf deutlich machen. Ich habe eben mit „Prisma“ die neue Phase eingeleitet, da ich mit „The Long Distance Howl“ im 19. von geplanten 20 Jahren angelangt bin. Einst erschien mir das ganz diffus: 20 Jahre. Heute staune ich über das enorme Ausmaß der Veränderungen in diesem Zeitfenster.

Mally stand schon am Anfang dieses Prozesses an meiner Seite. Zwischen 2002 und 2003 hatte ich die „Verschwörung der Poeten“ entfaltet. Im April ging es um die „Kraft der Poesie“ und wir erkundeten „Ways of Blues“. Das hatte zwei Haupttermine. Am 26. April 2003 in Gleisdorf und am 27. April 2003 in Ligist, wo Bertl Pfundner unser Gastgeber war, jener Bertl, der uns vor wenigen Tagen verlassen hat; siehe dazu: „Spielt‘s weiter!“ (Bertl ist gegangen)

Im April 2003 war ich mit den zwei Musikern Bernie Mallinger und Oliver Mally auf der Bühne, in Gleisdorf hatte ich noch Lyriker Wolfgang Siegmund dabei. Das Flyer-Motiv stammt von Comic-Zeichner Jörg Vogeltanz.

Pures Holz. Farbe!#

Zeitsprung! Eine Notiz vom 13. April 2016 besagt: „Sir Oliver Mally und Martin Krusche live in Albersdorf. Die nächste Verschwörung der Poeten hat begonnen. Chris Scheuer denkt an Albrecht Dürer.“ Zum Hintergrund: Graphic Novelist Chris Scheuer hatte auf eine Reihe meiner Gedichte überraschend reagiert. Er meinte, sie seien von einer Art, die könne er mit Zeichnen nicht bewältigen. Das müsse weit physischer sein. Scheuer ist ein Mensch, der nach meiner Überzeugung schon mit Schnauzbart auf die Welt kam, weil ich ihn mir ohne diesen Bart nicht vorstellen kann. Das wäre in diesem Clan vermutlich wenig überraschend gewesen.
Chris Scheuer an der Presse von Buchbinder Johann Kober. (Foto: Martin Krusche)
Chris Scheuer an der Presse von Buchbinder Johann Kober. (Foto: Martin Krusche)

Es war schon seine Großmutter, die Schriftstellerin Grete Scheuer, einigermaßen – man könnte sagen – verhaltensoriginell. Chris Scheuer befand sich noch nicht im Schulalter, als er begann, mit den kleinen Händchen eines etwa Vierjährigen Arbeiten von Albrecht Dürer zu kopieren. Nun hatte Scheuer sich zuvor noch nie mit Holzschnitten befaßt, war aber der Idee verfallen, daß er auf meine Gedichte mit solchen Druckwerken antworten werde. Also mußten wir erst einmal klären, welche Art von Holz wir dazu brauchen und wo wir entsprechende Druckstöcke bekommen. Dann Messer. (Es heißt keinesfalls umsonst: Holzschnitt.)

Als das alles gut geraten war und wir quasi die Druckvorstufe auf dem Tisch hatten, mußten wir die Idee aufgeben, daß unser Vorhaben mit einer kleinen Presse zu bewältigen wäre, mit so einem Hobby-Ding für schmucke Blätter zum Nächten Muttertag.

Den Ausweg bot uns Buchbinder Johann Kober, in dessen Werkstatt sich ein Arbeitstisch vom Ausmaß eines Hochplateaus befindet sowie das matt schimmernde Glanzstück: eine alte Kniehebelpresse. Oh, was waren wir bald schwarz bis zu den Ellbogen und konnten jeden Kilo Körpergewicht gut brauchen, um den Mechanismus der Presse zum Einrasten zu bringen, was eine Serie wunderbarer Drucke ergab.

Ich erzähle das so ausführlich, weil es schöne Konsequenzen hatte. Einerseits schlug ich Chris vor, daß wir zwei separate Booklets mit dem gleichen Titel produzieren, hier die Gedichte, da die Holzschnitte, damit der Eindruck vermieden werden könne, seine Grafiken seien Illustrationen meiner Gedichte; sie sind Erwiderungen darauf. Das sagte ihm zu. Zweitens gingen wir damit in die Albersdorf-Session mit Oliver Mally.

„gesellschaft ist nicht lustig, sondern multipel und global different
und wer sagt da wem was was wert ist?“
(helmut schranz)

Kontext: Schranz#

In jener Publikation befindet sich ein Text vom 8.9.2015, der an meinen Freund Helmut Schranz erinnert. (Eine milde Seele, Hand in Hand mit einem sehr scharfen Verstand.) Ein Mann, der mir immer im Verdacht stand, daß er nicht bloß etwas, sondern wesentlich klüger ist als ich. Dieser Text, den ich hie später noch zitieren werde, hat eine kleine Vorgeschichte. Helmuts Weg aus der Welt war von ein paar markanten Stationen bestimmt. Dieses Gedicht stammt vom 17. Juni 2014:
Autor Helmut Schranz † (Foto: Martin Krusche)
Autor Helmut Schranz † (Foto: Martin Krusche)

round about midnight

im
brennenden tabak
kroch bleiche glut
zu
seinen fingerspitzen
der
bittre rauch rann
seinen leib hinab
wo
eine klinge ihn
geöffnet hatte
und
nur sein sehnen
schloß die wunde

Am 22.08.2015 hatte mir Schranz geschrieben: „…egal. mir viel wichtiger ist ja dir mal ein paar zeilchen schicken zu können und dass es dir wohl gut geht nachzufragen und dass die damen des sudosteuropäischen raumes manchmal auch arge diven sein können (klar, vollkommen ähnlich denen im südoststeirischen becken nebst hödlmosers einschlägigen beiträgen zur gemeinsaen erkenntnisgemengelage) lieber kume, ich hoff dir gehts gut und umärmel dich liebstens. dein alter h.srancic“

Daß er mich hier als Kum ansprach, kam daher, daß er mich zu seinem Beistand bestimmt hatte, als er seine Vera heiratete. Kum ist das serbische Wort dafür. Aus meiner Antwort vom 24.08.2015: „mein lieber lebhafter! bin müden auges letzte nacht von (m)einer balkan-tour zurückgekommen und mit der post daher in verzug. das wird heute nachgeholt, sobald ich richtig munter bin. bis später! dein kum“ Am 07.09.2015 erhielt ich die Nachricht: „Martin, kume, unser helmut ist gestorben. Vera Schranz“. Tags darauf schrieb ich „in der ebene VIII“:

Musiker Oliver Mally (links) und Bürgermeister Robert Schmierdorfer. (Foto: Martin Krusche)
Musiker Oliver Mally (links) und Bürgermeister Robert Schmierdorfer. (Foto: Martin Krusche)

nun ist
ein poet
zu begraben
eine flamme
im abendrot

nun ist
mit erde
zu bedecken
ein inniges
bis wir uns
bei den sternen
treffen

Ich schildere das so ausführlich, weil ich den Wunsch hatte, dieses Gedicht bei unserer Albersdorf-Session vor Publikum zu lesen, zugleich aber in Sorge war, ich könnte dabei emotional nicht über die volle Distanz kommen, obwohl es ja nur wenige Zeilen sind.

Es kam dann auch genau so, daß ich zu lesen begann, spürte, das werde nicht zu schaffen sein, um schließlich vor den Leuten die Fassung zu verlieren. Alles stockte. Mally war achtsam. Er kannte das schon. Uns war vor Jahren etwas Ähnliches in Leibnitz geschehen.

Wir saßen 2008 in einem Saal mit etwa 400 Leuten auf der Bühne. Ich flog emotional mitten aus einem Text raus, Mally legte die Gitarre zur Seite… Stille. Diesmal verlief es anders. Ich fing mich nach einer Weile und wir spielten das Set zuende. Der Albersdorfer Bürgermeister Robert Schmierdorfer ging später nach vorne und las das Gedicht, das ich auf der Bühne nicht zuende bringen konnte. (Davon gibt es ein kleines Tondokument, das am Ende dieses Beitrags verlinkt ist.)

Die zwei Booklets im Web#

Transition#

Weshalb ist diese Geschichte von Belang? Sie weist uns darauf hin, daß wir eine Arbeit machen, die nie bloß der Kunst gewidmet ist, sondern in das reale Leben hereinkommt, um dort Dinge zu bewirken. So und in diesem Sinn war „The Long Distance Howl“ intendiert. Die zwei Jahrzehnte runden sich nun und ich bin woanders angelangt. Die Welt hat sich inzwischen grundlegend verändert. Das aber ist ein Wesen der Quest. Diese unausweichliche Veränderung, sei es: der Welt, sei es: der Reisenden. (Ab nun also das "Prisma"!)

Fortsetzung#



(Grafik: Chris Scheuer)
(Grafik: Chris Scheuer)