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Ich bin Lyriker#

(Ein Stück Hintergrundfolie)#

Von Martin Krusche#

Ich bin Lyriker. Das ist der zentrale Angelpunkt meines Lebens in der Kunst. Wenn ich mich auch mit anderen Dingen befasse, dann wesentlich aus zwei Gründen. Meine maßlose Neugier und der simple Umstand, daß ich mit dem Schreiben von Gedichten kein Arbeitsjahr ausfüllen kann. Ich vermute überdies, ohne all das Andere, von dem ich mich fesseln lasse, hätte ich zu wenig Stoff für meine lyrischen Texte.

Ich schreibe Gedichte nicht, um den Menschen meine Befindlichkeiten vorzutragen, sondern um Literatur zu schaffen. Das handelt zwar unausweichlich auch von meinen inneren Zuständen, die sind aber hier bloß Betriebsmittel für mein Schreiben.

Wollte ich den Menschen meine Gefühlswelt darlegen, würde ich ein öffentliches Tagebuch führen. Das könnte zwar auch eine literarische Kategorie sein, aber für diese Option sind mein Leben und meine inneren Vorgänge zu unerheblich. (Da müßte ich schon wie eine Madame Curie oder wie ein Bruce Chatwin in der Welt sein.)

Es gibt naturgemäß viele Arten von Intentionen, um Lyrik zu verfassen und ich finde es erfreulich, daß sich Menschen auf ganz private Art mit dem Schreiben von Gedichten beschäftigen. Selbst das Reimen von Gebrauchstexten übt jene besondere menschliche Fertigkeit: Literarität. (Die Fähigkeit, Text zu entziffern und zu verstehen.)

Wer Gedichte schreibt und sie den Menschen anbietet, um selber besser wahrgenommen zu werden, hat dafür legitime Gründe, die mich aber nicht interessieren. Das sind meist eher soziale denn künstlerische Motive. Ich interessiere mich nur selten für die Persönlichkeiten jener, die ein Werk geschaffen haben. Mich beschäftigt das Werk. Duchamp? Francis Bacon? Toni Morrison? Janis Joplin? David Bowie? Ihre inneren Zustände haben mich noch nie geschert. Ihre Werke bewegen mich.

Wie wird was?#

Wie schon angedeutet, meine literarische Arbeit hat immer auch eine Hintergrundfolie in meinem konkreten Leben. Meine Gedichte schreibe ich aber, um Gedichte zu schreiben, die etwas taugen. Es ist ein literarisches Motiv, das mich treibt. (Für meine Gefühlswelt habe ich ein paar Freundinnen und Freunde als Gegenüber, falls ich mich dazu äußern mag.)

Wer seine persönliche Innenwelt zum Gegenstand von Texten macht, sollte literarisch brillant sein und ein Leben von Relevanz führen, ansonsten geht mir sowas eher auf die Nerven. Doch nun ist es Zeit für eine kleine Ausnahme, denn eine Facebook-Erörterung wurde eben zum Anlaß, eines meiner Gedichte auf die Hintergrundfolie zu legen, damit anschaulich wird, wie ich arbeite.

Facebook ist für mich eine Art elektromagnetischer Salon, in dem ich es gerne gesellig hab, wenn ich mich zum Plaudern einfinde. Dort deponiere ich auch Links zu meinen Arbeiten, etwa zu meiner Lyrikleiste im Internet. Dazu kam kürzlich dieser Satz: „An Ihrem Gedicht beiß ich mir noch immer die Zähne aus.“ Ich versprach: „ich werde das auflösen.“ Es geht um folgenden Text:

für jeden bruch
in meinem leib
in meinem leben
hab ich
in fremden
währungen bezahlt

wo andere
auf antwort hoffen
da bitte ich um
gute fragen

wo andere
in flammen starren
durchkämme ich
die asche

nichts klärt sich
bloß aus mir
und ohne stürme
wäre ich
verloren

Was uns die Lyrik anbietet, ist ein Verzicht auf rationales Dechiffrieren. Sie macht prinzipiell Räume zwischen „Satzwahrheiten“ auf, überläßt einem Möglichkeiten, das Eigene damit zu verflechten, wodurch ein Text sich verändert. Ich denke, in meiner Verfahrensweise findet man auch Momente, die einem andere künstlerische Verfahrensweisen deutlicher machen. Egal, welche Medien zum Einsatz kommen, da wird teilweise aus den gleichen Quellen geschöpft und künstlerische Mittel haben schon vor der Entscheidung für ein bestimmtes Medium ihre erklärbaren Eigenheiten.

Im Detail#

Melodie und Rhythmus zählen zwar auch in vorzüglicher Prosa, aber in der Lyrik hat das spezielles Gewicht; und könnte völlig genügen. Ich schalte im Gegenzug innerlich sofort ab, wenn mir jemand Lyrik zumutet, die holpert, die ohne Melodie und Rhythmus ist; ausgenommen, derlei Brüchigkeit gehört erkennbar zum Konzept des Textes. Doch meist sind Mängel in diesem Punkt der Hinweis, daß sich jemand um schöne Worte und große Gefühle abmüht, ohne das Handwerk zu beherrschen.

Es kann also genügen, dem Sprachklang zu folgen. Es mag einem Freude machen, auf das Metaphorische einzugehen und so in einem trüben Gewässer nach eigenen Klarheiten zu fischen. Oder ein Text ist so bestechend, daß er glänzt. Da muß dann nichts gedeutet werden.

Das hängt sicher auch mit einer menschlichen Besonderheit zusammen, mit dem symbolischen Denken. Wir denken nicht bloß in Worten, sondern auch in Bildern und Emotionen. Was wir fühlen, ist körperlich. Es wirkt auf andere Möglichkeiten zurück. Wir können Dinge denken, die es nicht gibt. Wenn ich Glück habe, stoße ich auf ein Werk, welches alle diese meine Möglichkeiten zum Klingen bringt.

Ich hab aber schon angedeutet: es ist möglich, das oben zitierte Gedicht zu entschlüsseln, wenn man die individuelle Hintergrundfolie kennt. Ich mache das hier, um solche Prozesse nachvollziehbar erscheinen zu lassen. (Bei einem Kinofilm hieße der Doku-Streifen „Making of“.)

„für jeden bruch / in meinem leib / in meinem leben“
Leib und Leben stehen hier für ein Duo, das Materielle und das Immaterielle, den physischen Körper und das prozeßhaft Abstrakte: ein Leben.

Was darin Brüche sind, werde ich nicht erläutern müssen, wobei ich aufgrund meines Lebenswandels mit einer unbestimmten Anzahl an konkreten Knochenbrüchen lebe, wodurch mein Leben gefärbt ist, weil viele dieser Bruchstellen nie mehr verstummen.

Bruch meint hier natürlich auch Umbruch, die Krisis, wonach sich entscheidet, ob man genug Kraft hat, in Richtung Katharsis zu gehen; oder ob es eine Katastrophe wird. (Die Krise selbst ist ja kein Problem, nur Ausdruck einer Veränderung.)

„hab ich / in fremden / währungen bezahlt“
Die eigene Währung, das meint Vertrautes, meint das, was ich schon habe, worüber ich verfüge, was ich weiß. Die fremde Währung ist das, was ich aufbringen muß, um zu bezahlen, erst erwerben muß, um es ausgeben zu können. So ist das eben, wenn man in Neuland geworfen wird, eine Krise durchläuft, Veränderung wünscht.

„wo andere / auf antwort hoffen / da bitte ich um / gute fragen“
Das sind grundverschiedene Optionen, um auf einen Bruch, auf eine Krisis zu reagieren. Wer es schnell erledigt haben will, wird um Antworten ringen, die von wem auch immer kommen. (Ob das klappt, ist eine andere Frage.) Ich aber möchte erst einmal klären: Was ist jetzt – in dieser Situation - eine gute Frage? Damit soll eine Situation getroffen und erfaßbar werden, begreiflich, und wenn die gefundene Frage etwas taugt, habe ich gute Aussicht, aus eigener Kraft eine wirksame Antwort zu finden.

„wo andere / in flammen starren / durchkämme ich / die asche“
Das Faszinierende, der Wow-Effekt, die Überwältigung durch Erhabenes, das alles mögen schöne Erlebnisse sein, wünschenswerte Wahrnehmungserfahrungen, von deren Genuß man zehren kann. Aber bietet das Erkenntnis? Mag sein. Ich möchte dagegen ehest möglich wissen: Wie ist es dazu gekommen? Wo stehe ich denn derzeit überhaupt? Wovon kann ich ausgehen, wenn ich Stillstand meiden will? Auch: wie bleibe ich handlungsfähig? In der Asche finde ich die Vorleistungen anderer Menschen, die ich nutzen darf, denn ich muß nicht stets bei Null beginnen, um mich einer neuen Aufgabe zu stellen.

„nichts klärt sich / bloß aus mir“
…denn niemand ist alleine schlau und was Kultur meint, was Gemeinschaft meint, ist etwa diese großartige Möglichkeit, auf die Erfahrungen anderer Menschen zuzugreifen: und sei es bloß, um ein Kontrastmittel zu haben, damit ich besser sehe, wo ich bin, falls ich einen eigenwilligen Weg suche.

„und ohne stürme / wäre ich / verloren“
Der Stillstand, das Leben in der Komfortzone, im schlimmsten Fall Agonie, für all das brauche ich die erhebliche Lebenszeit, wie sie mir gegönnt ist, nicht. Wer das sucht, kann es leicht finden, kann sich unterhalten lassen. Eine milliardenschwere Industrie ist damit beschäftigt, jeden Tag 24 Stunden Entertainment anzubieten, damit einem die Zeit vergeht, wenn man auf dem Sofa bleibt.

Kleines Fazit#

Ich bin keineswegs in Schwierigkeiten verliebt, aber ich hab eine stete Sehnsucht nach Stürmen. Widersprüchlich? Na klar! Es entstehen keine Wahrheiten, indem man Widersprüche eliminiert. Das oben zitierte Gedicht stammt aus einem aktuellen Zyklus, der sich HIER im Web befindet.

Postskriptum#