Freiheit des Bauens#
ein Beitrag von Hasso Hohmann aus dem Buch Architektur im Kontext (Hrsg. Hasso Hohmann)
Der Reiz der historischen Zentren leitet sich zu einem Großteil aus der Beschränkung der Freiheiten im Bauen in der Vergangenheit ab. Es ist eine großteils unfreiwillige Beschränkung auf den engen Raum innerhalb der oft von hohen, kostspieligen Wehranlagen eingeschnürten damaligen Städte, auch eine Beschränkung auf die verfügbaren Baustoffe aus der näheren Umgebung dieser Städte, da der Transport schwerer Materialien über große Distanzen meist nicht finanzierbar war, es gab aber auch die Beschränkungen durch damalige Baugesetze, die auf diese und andere Parameter reagierten und auch die Brandsicherheit zum Ziel hatte, und die Beschränkung durch den jeweiligen technischen Standard. Zu den Beschränkungen durch baugesetzliche Regelungen kamen zumindest in einzelnen Städten schon im Mittelalter auch Regeln und Kommissionen, die das Erscheinungsbild verbessern sollten und nochmals in die Freiheit der Planer eingriffen. So gab es beispielsweise bereits um 1200 eine Schönheitsbehörde für die italienische Stadt Siena.
Heute verfügen wir über ein riesiges Angebot an natürlichen und künstlich hergestellten Baustoffen. Wir können nahezu jede Form in der Architektur erzeugen. Es gibt eine fast unbegrenzte Freiheit im Bauen - ein Umstand, der zu vielen Disharmonien in unseren heutigen Städten geführt hat.
Als Reaktion auf die Zeit des Historismus im 19. Jahrhundert haben andererseits neue Unfreiheiten fast gleichzeitig mit dem Jugendstil Einzug gehalten. Diese wirken bis ins 21. Jahrhundert fort. Dazu gehören vor allem die Ideologisierung und quasi Tabuisierung von geneigten Dächern samt Traufen. Tabuisiert wurden und sind außerdem symmetrisch konzipierte Fassaden in weiten Teilen der Architektenschaft. Das eine wird als reaktionär, das andere als totalitär verurteilt. Und wer will schon reaktionär bzw. totalitär sein?
Schaut man in die Vergangenheit zurück, so gibt es zwischen den unterschiedlichen Stilepochen oft nur wenig Gemeinsames. Selbst in der Großform kann man auch in der Vergangenheit immer wieder Maßstabsprünge beobachten. Gewisse Gestaltklammern haben sich allerdings über Jahrhunderte gehalten.
Das geneigte Ziegeldach in Kombination mit dem Dachziegel gehört ganz dominant zu diesen Gemeinsamkeiten. Es war schon in der Antike bekannt. Damals wurden die Dächer noch mit viel größeren Ziegelelementen gedeckt. Schon die Römer brachten die Ziegeldächer bis in unsere Klimazone. Erst in dieser Zeit beginnt man vor allem an den Hofseiten der Häuser das flache Dach in größerem Umfang in die Architektur Mittel-und Nordeuropas einzuführen. Es ist mit Teerpappe oder Blech gedeckt und sehr flach geneigt. Das Bauhauserhob das Thema dann Anfang des 20. Jahrhundert fast zur Ideologie. Ein Architekt, der etwas auf sich hält, baut Häuser mit Flachdach.
Die Traufe, die gewöhnlich im Zusammenhang mit dem Dach gekoppelt auftrat, ist besonders bei engen Straßenräumen von Bedeutung. Aus solchen Straßen sieht man das Dach meist nicht und die Traufe bildet einen oft markanten optischen und wünschenswerten Abschluss nach oben hin. Viele Jugendstilbauten haben bereits Flachdächer, verfügen aber oft über besonders ausgeprägte Traufen. Neubauten ohne einen vortretenden oberen Abschluss wirken in Straßenräumen mit geschlossener Verbauung, die von Altbauten mit markanten Traufen geprägt sind, oft unfertig und Traufen sind zugleich ein sinnvoller Schutz der Fassaden vor zu häufiger Durchnässung bei Regen.
Die Symmetrie ist eine weitere Gestaltklammer, die sich über die Jahrhunderte erhalten und zwischen den Bauten unterschiedlichster Stilepochen vermittelt hat. Sie vermittelt vor allem auch zwischen gut und weniger gut gestalteten Bauwerken. Die weniger gut gestalteten werden durch das gemeinsame Gestaltmerkmal der Symmetrie erträglicher im Ensemble.
Bedauerlicherweise wurde die Symmetrie generell zum Symbol für Totalitarismus, Gewalt und Tyrannei. Dies bezieht sich zwar primär auf gewaltige Aufmarschstraßen, symmetrisch angelegte Plätze sowie überdimensionale und Furcht einflößende Prachtbauten, wird aber heute meist auch auf die vergleichsweise klein dimensionierten Wohnbauten angewandt. Zudem wird auf den Aspekt verwiesen, dass Innen- und Außengestaltung eines Bauwerkes übereinstimmen sollten. Nachdem nun die Grundrisse im Innern meist nicht axialsymmetrisch angelegt sind, sollte man also auch nach außen die Asymmetrie erkennen lassen. Die Diskrepanz von äusserlicher Symmetrie und innerer Asymmetrie kann man allerdings auch in der Natur beobachten, wie beispielsweise beim Menschen, der selbst innen asymmetrisch und äußerlich annähernd symmetrisch geformt ist.
Eine symmetrisch gestaltete Hausfassade ergibt selbst im engen Nebeneinander geschlossener Häuserzeilen von seiner Gestalt her betrachtet ein in sich abgeschlossenes auf sich konzentriertes Objekt. Die freien Fassadengestaltungen unserer Zeit hingegen wirken meist wesentlich stärker auf ihre architektonische Nachbarschaft, greifen aus und erfordern daher ein viel höheres Maß an gestalterischem Können des Planers und Sensibilität bei der Berücksichtigung der Umgebung. Dies wird und wurde von Planern vielfach nicht geleistet. Qualität ist sehr schwer einforderbar. Wie weit es dem Architekten gelingt, in einer zeitgemäßen Formensprache in einen Dialog mit der architektonisch älteren Nachbarschaft seines Planungsobjektes zu treten, darf wohl als das wesentliche Kriterium zur Beurteilung der Ensemblefähigkeit bezeichnet werden.
Raimund Abraham ist einer der ersten international anerkannten österreichischen Architekten, der gleich beide Tabus gebrochen hat - das der geneigten Dächer und damit auch der Traufen und jenes der Symmetrie. In unseren historischen Zentren sind geneigte Dächer bei einsehbaren Dachlandschaften leichter zu integrieren und daher zu empfehlen, sie sollten aber sicher nicht aus „architekturideologischen" Gründen verhindert oder verboten werden.
Hochhäuser können etwas sehr Faszinierendes sein. Manhattan oder Hongkong begeistern wohl jeden, der diese Hochhausagglomerationen besucht. Beide stehen auf Flächen, auf denen ältere Städte gestanden haben. Nur wenige Kultbauten, Kirchen, Synagogen bzw. Tempel haben aus der Vergangenheit in diesen Stadtteilen überlebt. Sie waren einmal die höchsten Bauwerke ihrer Stadt und gehen heute in den Hochhausensembles unter, sie fallen kaum noch auf. Vielleicht ist dies auch ein Zeichen für ihren gesunkenen Stellenwert. Die Skyline von Manhattan in New York ist heute weitgehend ein Abbild der Grundstückspreise. Auch in Hongkong ist die Höhe der Hochhäuser davon wesentlich bestimmt. Zugleich gibt es natürlich auch eine Art Wettbewerb um das höchste Gebäudes geht um die verständliche Faszination der Höhe.
Hochhäuser mit geringeren Höhen waren schon in Rom vor 2000 Jahren ein Thema. Die Höhe von Bauten wurde daher entlang von öffentlichen Straßen drastisch limitiert. Für den Bau von Hochhäusern kann Platzmangel ausschlaggebend sein. Meist dient aber die Höhe als Mittel zur Steigerung der Rendite eines Grundstücks oder ist Ausdruck von Bedeutung und Macht einer einzelnen Person oder einer Gruppe - man denke an die Geschlechtertürme in Regensburg oder Bologna.
Als Standorte für Hochhäuser scheinen wertvolle historische Stadtkerne heute angesichts des oben beschriebenen Missverhältnisses zwischen altem und neuem Bauvolumen noch weniger geeignet als früher. Sie würden die geplante Zerstörung eines solchen historischen Zentrums voraussetzen. Meist stehen in diesen Zonen die zentralen Sakralbauten mit ihren hoch aufragenden Glockentürmen oder Minaretten. Hochhäuser würden zumindest die gewachsene Hierarchie der Höhe in solchen Stadtbereichen zerstören und zur Konkurrenz für diese Türme werden. Sie werfen außerdem markante Schatten, sind Sichtversteller und oft optisch extreme Störfaktoren in homogen niedrig verbauten Gebieten einer Stadt. Die Flächen der historischen Zentren machen in den gewachsenen größeren Städten Europas meist nur 3% oder 4% der gesamten Stadtfläche aus. Die Freiheit des Bauens ist oder wird also nur auf einer geringfügigen Fläche beschränkt. Vor der Ausweisung von Hochhaus-Standorten außerhalb dieser Kernzonen sind aber auch wichtige Sichtverbindungen oder Sichtschneisen zu untersuchen und zu berücksichtigen. Als in Wien das Ibis-Hotel am Mariahilfer-Gürtel errichtet wurde, das nicht einmal besonders hoch über die Gebäude seiner sonst fast durchgehend homogen hoch verbauten Umgebung aufragt, genügten die wenigen Stockwerke mehr, um die seit dem Barock bestehende wichtige Sichtverbindung zwischen der Gloriette über Schloss Schönbrunn und dem Stephansdom im Zentrum der Stadt zu unterbrechen.
Auch Silhouetten von Städten sind wichtige Kriterien bei der Ausweisung von Hochhausstandorten. Als man Mitte des 20. Jahrhundert im historischen
Zentrum von Istanbul, das hoch über der Meerenge auf einem Höhenrücken zwischen Bosporus und Goldenem Hörn liegt, ein sehr hoch aufragendes Hotel plante, war es kein geringerer, als Le Corbusier, der zur Beachtung der wertvollen Silhouette dieser Stadt mit ihren großen Moscheen und der Hagia Sophia aufrief.
Der Autor stellt zu den vier Problemthemen im Zusammenhang mit historischen Zentren folgende Forderungen auf:
1. Bei Neubauten in qualitätvollen historischen Ensembles mit einer wertvollen Ziegeldachlandschaft, die von öffentlich zugänglichen erhöht gelegenen Aussichtspunkten einsehbar ist, sollte möglichst auch künftig versucht werden, das Thema der traditionellen Dachformen wieder aufzugreifen, da Flachdachbauten wesentlich schwerer in historische Dachlandschaften mit geneigten Dächern zu integrieren sind als Bauten mit ähnlich stark geneigten Dächern. Zumindest sollte man derartige Dächer nicht tabuisieren und versuchen sie in eine neue Architektursprache zu übersetzen.
2. Zur Charakteristik eines historisch geprägten Strossen-, Platz- oder Hofraumes mit hoher Randverbauung gehört in Mitteleuropa meist das Thema Traufe. Fassaden von älteren Bauten schließen nach oben häufig mit einem kräftigen Traufgesims ab. Daher sollten Fassaden von Neubauten in derartigen Ensembles am oberen Rand einen vortretenden Abschluss erhalten, der eine Art Neuinterpretation des Themas „Traufgesims" darstellt.
3. Zu den charakteristischen Gemeinsamkeiten historischer Fassaden aus vielen Stilepochen bis ins 20. Jahrhundert gehört ihre mehr oder weniger konsequent durchgehaltene Symmetrie. Symmetrisch gestaltete Fassaden sollten auch für Neubauten hier nicht tabuisiert und in der Regel eher empfohlen werden. 4. Hochhausprojekte stellen mitunter einen Sonderfall neuer Architektur in historischer Umgebung dar. Sie sollten in einem solchen Umfeld nicht zugelassen werden. Geeignete Standorte für Hochhäuser können nur in einem großen Abstand zu historischen Zentren liegen. Siesollten nurdortzugelassen werden, wo sie selbst wieder ein Ensemble bilden können. Davon ausgenommen können nur Gebäude mit besonderer kultureller Bedeutung für die jeweilige Stadt sein. Da Hochhäuser auch über größere Distanzen optisch sichtbar bleiben bzw. Sichfverbindungen verstellen können, ist in jedem Fall eine umfassende Eignungsprüfung, also auch weit außerhalb der historischen Zentren, notwendig. Ein direktes Nebeneinander von wertvollen historischen Ensembles und Hochhäusern sollte jedenfalls vermieden werden.
Thema/Architektur