Dachlandschaften (Essay)#
Text und Bilder von
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von
ISG Magazin Heft 4 / 2003 (Internationales Städteforum Graz)
Dachformen#
Die traditionellen Dachlandschaften waren vor allem von Klima, Konstruktion, verfügbarem Baumaterial und von der kulturellen Entwicklung geprägt. Schon in sehr frühen Kulturen gab es in Abhängigkeit von der jeweiligen Bauweise unterschiedliche Ensembles von Dächern: Kuppeldächer, Flachdächer und Steildächer in unterschiedlichsten Ausformungen und verschiedenen Deckungsmaterialien ausgeführt.
Kuppeldächer bestimmen heute noch in weiten Teilen die Dachlandschaften des Iran und des südlichen Ägypten. Das extrem trockene Wüstenklima führte dazu, dass in beiden Zonen Holz importiert werden musste, was es sehr teuer machte. Dies dürfte ein Auslöser dafür gewesen sein, dass man schon um 3000 v. Chr. fast zeitgleich im Iran, Irak und im südlichen Ägypten das Schlusssteingewölbe entwickelte, eine bautechnisch revolutionierende Erfindung, welche noch die Architektur mehrerer tausend Jahre bestimmen sollte.
Das Pantheon in Rom wurde 3.000 Jahre später errichtet, hat eine stützenfreie Spannweite von 43,5 m und steht heute noch; der kühne Bau der Hagia-Sophia im einstigen Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, wurde weitere 500 Jahre später errichtet. Beide wären ohne diese Erfindung undenkbar. In den zwei Zonen der frühesten Gewölbe wurden und werden die Gewölbe nicht in Stein, sondern mit ungebrannten Lehmziegeln ausgeführt. Lehm gibt es fast überall, und für die Herstellung der Lehmziegel wird nur wenig des kostbaren Wassers gebraucht. In beiden Zonen, in Südägypten und in Mesopotamien, sieht die traditionelle Konstruktionsweise an die Giebelwand gelehnte Gurtbögen vor, mit denen es möglich ist, Gewölbe mit Spannweiten von etlichen Metern ohne hölzerne Unterkonstruktion zu errichten.
Damit war man in der Lage, auch Dächer für Häuser aus Lehm und ohne Holz zu bauen. Ihr Verputz aus einem Strohlehmgemisch sorgt ausserdem bei den seltenen Regenfällen für einen meist ausreichenden Schutz gegen Wassererosion auch auf den Dächern. Er wird so auf die gewölbten Dächer aufgebracht, dass die Strohfasern immer abwärts gerichtet sind. Das extreme Klima und das Fehlen von Holz haben in den genannten Zonen zu einer angepassten Bauweise, Bauform und damit zu grossen Ensembles von Kuppeldächern geführt.
Auch Flachdächer setzten früher ein regenarmes Klima voraus. In den semiariden Gebieten um Fes in Marokko und auch bei den Pueblo-Indios im Südwesten der USA beispielsweise ist das der Fall. Bei Fes gab es aus dem nahen Atlasgebirge reichlich Bauholz, so dass man in der Altstadt fast nur Flachdächer antrifft. Sie alle bestehen aus einem Rost von Holzbalken, einer dichten Querverschalung und einer dichten Beschüttung, die noch heute oft in Lehm ausgeführt ist. Gewölbe finden sich in Fes nur bei wenigen Sakralbauten. Bei den Pueblo wuchs in den Canyons ausreichend Holz, sodass auch hier die Zwischendecken und Flachdächer mit einer Holzunterkonstruktion ausgestattet werden konnten, auf der die Lehmdecke lastete.
In regenreichen Zonen hingegen werden seit Jahrtausenden mehr oder weniger stark geneigte Dächer verwendet, die sich in Form und nach ihrem Deckungsmaterial wieder unterscheiden. Meist ist die Grundform das Pultdach oder das Satteldach. Selbst im präkolumbischen Amerika, dessen Kulturen sich doch weitgehend unabhängig von den Kulturen Europas, Asiens und Afrikas entwickelt haben dürften, finden sich fast alle bekannten Dachformen der Alten Welt und einige mehr. So gibt es ausser den oben genannten auch Walmdächer, Zeltdächer, Kegeldächer, Kraggiebelfusswalmdächer und zusätzlich auch Kombinationen von jeweils zwei gegeneinander gestellten Pultdächern, die am First verschieden hoch enden, sodass ein Versatz als Luft- und Lichtschlitz entsteht, der bei ausreichender Überlappung auch regensicher ausgeführt werden konnte.
Der Kraggiebel beim Kraggiebelfusswalmdach hat eine ähnliche Funktion. Er wurde schon bei Erdhäusern des alten China verwendet und wird heute vor allem in Südostasien in den tropischen Regenwaldgebieten verwendet, fand sich aber auch in der präkolumbischen Architektur der Regenwaldgebiete Mesoamerikas schon recht früh.
Deckungsmaterialien#
Die Steilheit des Daches ist wieder vom Deckungsmaterial abhängig. Gibt es in der Umgebung gut spaltbares Steinmaterial, so wird dies oft grossflächig und auf relativ flach geneigten Unterkonstruktionen aus Holz verarbeitet, da der Stein durch sein Eigengewicht auch bei starken Stürmen liegen bleibt, bei steilen Dachflächen aber leicht abrutschen könnte. Mit ausreichender Überlappung der Deckelemente können sie ein dichtes Dach ergeben. Kleinformatige Steinschindeln hingegen werden meist eher steil verarbeitet und müssen angebunden oder angenagelt werden.
Reed, Stroh oder Schilf ergeben durch ihre Verarbeitung charakteristische Details. Derartige Dächer haben materialbedingte Abschlüsse im Firstbereich und weiche Viertelrundungen bei Graten und Gaupen. Diese wie auch Holzschindeln brauchen eine Dachneigung von möglichst über 40°, wenn das Deckungsmaterial nicht faulen soll. Die Kapillarwirkung zwischen den eng liegenden Halmen oder den Holzplättchen stellt sonst eine grosse Gefahr für Fäulnis dar. Je steiler das Dach ist, desto stärker arbeitet die Schwerkraft gegen die Kapillarkraft.
Ziegel, der durch starkes Erhitzen erste künstlich erzeugte Baustoff, ist vor dem Brennvorgang leicht formbar. Je nach Form des Dachziegels lässt er sich auf Dächern bis unter 30° Neigung noch verarbeiten. Auch die Römer verarbeiteten relativ grossformatige Ziegel, die keine steilen Dächer voraussetzten.
All diesen traditionellen Materialien ist etwas mehr oder weniger ausgeprägt gemeinsam: sie sind atmungsaktiv. Nur bei Stein kann dies - bei manchen Gesteinen - relativ gering sein. Harmonische Dachlandschaften mit ähnlichen Dachformen, Dachrichtungen und Deckungen entstanden unter ähnlichen Voraussetzungen fast immer als Ergebnis optimaler Arbeitsverfahren und führten zur Ensemblewirkung. Form, Material und Konstruktion variieren dabei in einer gewissen Bandbreite.
Eher selten gab es auch in der Vergangenheit grundsätzlich neue technische Erfindungen, so dass in der Übergangszeit unterschiedliche Dachtypen im Stadtbild oder Siedlungsraum gleichzeitig vertreten waren. Davon zeugen bildliche Darstellungen und auch archäologische Befunde, beispielsweise bei den Maya. Dort gab es um etwa 800 n. Chr. gleichzeitig und nebeneinander stehend reine Steinbauten mit Steingewölben und Flachdächern bzw. Mansarddach, einfachere Häuser mit steilem Satteldach und Blätterdeckung sowie eine Tempelform mit grossem steilem Kraggiebelfusswalmdach.
Ein viel jüngeres Beispiel dafür ist auch die Stadt Steyr in Oberösterreich mit den kleinen gotischen Häusern unter ziegelgedeckten Schopfwalmdächern und den grossen Bauten - meist aus der Zeit des Historismus - mit ihren flachgeneigten verblechten Satteldächern. Bei den Griechen gab es den griechischen Tempel als Solitärbau mit Giebeln und Traufen und daneben das geschlossen verbaute Stadthaus mit Patio, bei dem nach aussen oft nur eine hohe Mauer zu sehen war, an die innen das zum Hof geneigte Dach anschloss.
Bei uns hat sich das ziegelgedeckte steile Satteldach, Walmdach, Schopfwalmdach bzw. Mansarddach über Jahrhunderte bewährt. Es hatte annähernd die gleiche Neigung und die gleiche Deckung über viele Jahrhunderte. In der Grazer Dachlandschaft finden sich heute noch Ziegel aus der Gotik. Die Neigung des Daches und das Ziegelmaterial waren Gemeinsamkeiten über alle Stilepochen hinweg. Dies ergab auch einen gestalterischen Zusammenhalt von Ensembles aus unterschiedlichen Stilepochen.
Erst in der Zeit des Historismus begann man mit Flachdächern zu experimentieren. Meist wurde bei derartigen Bauten an der Strassenseite ein Pultdach errichtet und an der Rückseite das Flachdach angeschlossen. Dies entsprach der damaligen Auffassung von Schaufassade mit Dach vorne und reiner Lochfassade ohne Dekor und Flachdach, manchmal als Terrasse genutzt, hinten.
Die traditionelle Dachlandschaft in unserer Region war vorwiegend von nicht ausgebauten "Kaltdächern" geprägt. Bei dieser Dachkonzeption ist die Wärmedämmung auf die oberste Geschossdecke aufgebracht, während die Feuchtigkeitsisolierung die schräge Dachhaut bildet. Diese Dächer ergeben eine sehr ruhige Dachlandschaft.
Ausgebaute Kaltdächer #
Ausgebaute Dächer hingegen erfordern Belichtungsöffnungen, durch welche eine noch intakte Dachlandschaft oft sehr unruhig und uneinheitlich wird. Dies ist vor allem der Fall bei Dachaufbauten wie Gaupen und bei Dacheinschnitten. Außerdem ergeben Dachausbauten oft starke haustechnische Probleme (siehe Artikel zu "Dachausbauten gefährden die Substanz", ISG-Magazin 1/1995, S. 50 - 51). Bei Dachbodenausbauten kann fast schon von einer programmierten Zerstörung der Bausubstanz gesprochen werden, wenn man die vielen oft schon nach wenigen Dekaden abgestickten Holztragwerke, Sparren und Dachlatten untersucht, die bei Neueindeckungen oder Umbauten freigelegt werden.
Meist sind bei Dachbodenausbauten die Gaupen oder Dachflächenfenster viel zu gross bemessen und wirken dadurch besonders unproportioniert und störend. Das liegt in Österreich meist daran, dass in den meisten Bauordnungen eine geforderte Belichtungsfläche von 1:10 oder 1:12,5 festgeschrieben ist; diese gibt das geforderte Verhältnis von Belichtungsfläche zur Raumfläche an. Diese müsste dringend im Dachbereich geändert werden, weil hier viel mehr Licht vorhanden ist als weiter unten im Gebäude.
Durch unkontrolliert auftretendes Wasser, sei es von aussen durch schadhaftes Deckungsmaterial oder durch undichte Rohrleitungen von innen, verlieren die Dachstühle auch bei denkmalgeschützten Dachkonstruktionen ihre Tragfähigkeit relativ schnell so weit, dass sie ausgewechselt werden müssen. In jüngerer Vergangenheit wurden einige denkmalgeschützte Dachstuhle neu ausgebaut, bei denen eine raumbrauchende, von der Dachkonstruktion völlig getrennte Innenkonstruktion für den Ausbau eingebaut wird. Hier steht zu hoffen, dass sich das neue Verfahren besser bewährt.
Dachterrassen sind meist besondere Gefahrenherde. Undichtheiten im Aufbau der Terrasse können vor allem bei Häusern mit Holzbalkendecken zu nachhaltigen strukturellen Zerstörungen führen. Gefahren für den Bestand des Dachstuhles gehen auch von Mardern bei ausgebauten Dachstühlen aus, die gerne in der Isolierung unter der Dachhaut überwintern; sie finden hier oft auch Kabel zur Elektrifizierung des ausgebauten Dachstuhles. Die Neigung von Mardern zum Zerbeissen von Kabeln kann zu Kurzschluss und Brand führen.
Moderne Deckungsmaterialien#
Moderne Deckungsmaterialien wie Blech (Eisen, Zink, Kupfer), Teerpappe, Betondachstein, Faserzement oder Kunststoffe hingegen sind fast perfekt sperrende Baustoffe. Man sollte meinen, damit die idealen Baustoffe für die Dachdeckung gefunden zu haben. Leider kommt die Feuchtigkeit nicht nur von aussen.
Die im Innern eines Gebäudes entstehende Feuchtigkeit kondensiert in der kalten Jahreszeit täglich an der Innenseite des Deckungsmaterials. Durch die modernen Deckungsmaterialien kann sie nicht aufgenommen und nach aussen wieder abgegeben werden, wie dies beim Ziegel der Fall ist. Durch die Kondensationsfeuchtigkeit kommt es daher oft zu Fäulnis an Dachlatten und Sparren. Vor allem bei ausgebauten Dächern, bei denen die Hinterlüftung der Aussenhaut insbesondere bei Sparrenauswechselungen infolge von Dachfenstern oft nur schlecht oder gar nicht funktioniert, kommt es so zu gravierenden Schäden durch Abstickung des Dachstuhls.
Zur Verunstaltung führen heute viele technische Aufbauten wie nachträgliche angebrachte Kehrstege, die dann notwendig werden, wenn beim Dachausbau vom Planer keine Kehrräume im Innern vorgesehen werden. Dann entstehen auf der Deckung aussen Treppen und Kehrsteg. Sehr störend sind die heute in verstärktem Maße die Dächer überwuchernden Antennenanlagen, die vor allem durch die Mobiltelefonnetze, aber auch durch Rundfunk und Fernsehen (besonders durch Satellitenfernsehen) auf den Dächern notwendig werden.
Neubauten in historischen Dachensembles#
Heute kennen wir Flachdachkonstruktionen, die theoretisch technisch perfekt funktionieren, wenn man von der Fehlerhaftigkeit der Bauausführenden absieht. Daher und der Kostenersparnis wegen werden wohl die meisten Neubauten heute mit einem Flachdach ausgestattet. Werden Bauten mit Flachdach im Kontext mit einem historischen Ensemble errichtet, so treten oft formale Härten im nachbarschaftlichen Nebeneinander auf. Daher sollten bei Bauten in historischem Umfeld zwei fast wie Tabus behandelte architektonische Themen wieder diskutiert, enttabuisiert und neu gestaltet werden: die Traufe und das schräge Dach.
Neubautraufen#
Traufen sind oft das einzige, was der Passant in engen Strassenräumen vom traditionellen Dach sieht. Die Traufe bildet den oft sehr individuell gestalteten oberen Abschluss unterschiedlicher Fassade. Sie ist in historischen Städten Mitteleuropas meist ein charakteristisches Architekturelement. Um Neu und Alt miteinander kompatibler zu machen, genügt es oft, diesen oberen Abschluss, die Traufe, in die Planung aufzunehmen. Dabei sollte sicher nicht ein traditionelles Gesims geplant werden, sondern eine Neuinterpretation des Themas erfolgen.
Neubaudächer#
Bei Dörfern und Städten, die man von erhöhten Standpunkten aus als Ganzes wahrnehmen und deren Dachzonen einsehbar sind, ist ein erhöhtes Augenmerk auf diese fünfte Fassade von Gebäuden zu legen. Besonders heute, wo die neuen Deckungsmaterialien auch andere Dachformen ermöglichen, sollte die am Ort charakteristische Form bei neu zu planenden Dächern und ihrem Deckungsmaterial berücksichtigt werden. Die neuen Dächer sind von grosser Bedeutung für die Ensemblewirkung einer noch intakten historischen Dachlandschaft.
Daher sollte auch dieses zweites Tabu, das geneigte Dach, wieder in die Architekturelemente-Liste aufgenommen werden und nicht weiter in gewissen Architektenkreisen tabuisiert bleiben. Auch hier wird man sich um eine zeitadäquate Neugestaltung bemühen müssen, die zugleich das jeweilige Ensemble berücksichtigt.