Leichen aus Wachs#
Es ist, selbst unter den Wienern, nur unzureichend bekannt: das Josephinum mit seinen anatomischen Wachsmodellen.#
Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 1./2. November 2014) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Matthias Winterer
Wien. Der alte Holzboden knarrt bei jedem Schritt. Die Luft ist stickig und trocken. In einer fragilen Palisander-Vitrine mit Rosenholz-Furnier und mundgeblasenen, venezianischen Glasscheiben lagert ein Frauenkörper. Um ihn vor Sonnenlicht zu schützen, sind die Jalousien heruntergelassen. Am Hals liegt eine Perlenkette eng an, im blonden Haar steckt ein goldener Reifen. Sie ist in feine Seide gebettet. Ihre Augen sind leicht geöffnet, der Blick sinnlich leidend. Die rosarote Haut wirkt irgendwie lebendig. Doch der Brustkorb ist geöffnet. Lungenflügel, Lungenlappen, die Bronchien, Herz, Zwerchfell und Leber liegen frei. Die Schlagader scheint noch zu pulsieren. Die Dame wird "Venus von Wien" genannt, ist 230 Jahre alt und kommt eigentlich aus Florenz. Sie ist eines von knapp 1200 anatomischen Wachsmodellen des Josephinums, der weltweit größten Sammlung dieser Art.
Per Packesel nach Wien#
Als Kaiser Joseph II. das Naturgeschichtliche Museum "La Specola" in Florenz besuchte, war er von den menschlichen Wachsmodellen derart begeistert, dass er sofort über tausend Stück für Wien bestellte. Dem Zeitgeist der Aufklärung folgend, galt Wien in den 1780er Jahren als das wissenschaftliche und künstlerische Zentrum Europas. Umfassende medizinische Einrichtungen, wie die chirurgisch-medizinische Militärakademie - das sogenannte Josephinum - wurden gegründet. Und genau hier sollten die Wachsmodelle ihr Zuhause finden. Sie wurden in Florenz gefertigt und gelangten per Packesel über die Alpen nach Wien, wo sie den Studierenden über Jahrhunderte als Lehrobjekte dienten. "Frische Leichen waren damals Mangelware, so war es einfacher, lebensgroße Modelle zu fertigen", erklärt Moritz Stipsicz, Kurator des Hauses.
In ihrer unglaublichen Detailtreue sind die Figuren kaum von den präparierten, echten Körpern der berühmten "Körperwelten" von Gunther von Hagen unterscheidbar. Hauchdüne Nervengeflechte überziehen rote Muskelpartien. Siamesische Zwillinge liegen im trüben Fruchtwasser einer aufgeschnittenen Embryonalhülle. Die grau-braunen Windungen eines Darms quellen aus einem Frauenleib hervor, bereit für die wissbegierigen Blicke ganzer Heerscharen von Studenten. "An der Pose der Modelle erkennt man, dass sie von der italienischen Renaissance inspiriert sind", sagt Stipsicz. "Sie sind elegant und schön, unterdrücken ein gewisses Maß an Leid aber nicht." Die Darstellung differiert stark zwischen den Geschlechtern. Während die Damen stets liegen und die inneren Organe zur Schau stellen, stehen die Herren und zeigen die Lage der Muskeln und Sehnen. Die Modelle sind irgendwo zwischen Kunst und Wissenschaft einzuordnen. "Aus heutiger Sicht sind sie sicher für Kunsthistoriker spannender als für Mediziner."
Eine gruselige Zeitreise#
Draußen, auf der Währinger Straße, rollt der 42er langsam und bimmelnd vorbei. Die Wiener stauen im Berufsverkehr nach Hause. Kaum ein Fahrgast ahnt, welch schauderhaftes Sammelsurium sich hinter der klaren, klassizistischen Fassade mit Hausnummer 25 verbirgt. Das Gebäude wirkt einsam und verlassen. Rote Weinblätter überwuchern die alten Gemäuer bis unter den Dachvorsprung. Ein Zaun aus spitzen Eisenstreben scheint die Öffentlichkeit geradezu auszuladen. Düster ziert Göttin Hygiea - ihre Schlange über die Schultern geschlungen - den Brunnen inmitten des Vorgartens aus kargen Hagebutten-Sträuchern und Wildrosen.
Neben der Sammlung anatomischer Wachsmodelle beherbergt das Josephinum ein umfassendes Instrumentarium aus allen Teilbereichen der Medizin, von der Aderpresse bis zum Zystoskop. Glasvitrinen voller Amputationsmesser und Bohrer säumen die endlosen Gänge des Gebäudes. Eine schaurig, gruselige Zeitreise durch die Vergangenheit der Heilkunst. Außerdem befinden sich Österreichs größte Archivbibliothek für Medizingeschichte und ihr verwandter Disziplinen im Josephinum. Etwa 500.000 medizinische Schriften füllen die prunkvollen Bücherschränke im Erdgeschoß. Dieser morbide Schatz verstaubte jahrelang - fern der Öffentlichkeit - hinter den Toren. "Erst langsam versuchen wir die wichtigsten Musealien aufzubereiten, uns zu öffnen", sagt Stipsicz. Eigentlich passt das Josephinum zu Wien wie der Topf zum Deckel - zumindest zum Klischee der Stadt. Der Charme einer wirklich alten, wissenschaftlichen Einrichtung, gepaart mit der Faszination des Todes und der menschlichen Anatomie. Septisch anmutende Wachspuppen im Kontext eines porösen Museumsambientes. Gespenstisch, finster, grausig. Gleichzeitig sind sie auf historischer und kunstgeschichtlicher Ebene höchst interessant. Touristen müssten dem Josephinum eigentlich die Türen einrennen, stattdessen ist seine Existenz - selbst unter den Wienern - nur unzulänglich bekannt. Dies soll sich nun ändern.
Die Besucherzahlen steigen stetig, das Haus wird moderner, ohne seinen Charakter zu verlieren. Seit rund einem Jahr arbeitet Stipsicz mit Künstlern zusammen, die sich dem Thema Anatomie zeitgenössisch nähern. Behutsam greift sein Team in die vorhandene Substanz ein, zerstört diese aber nicht. Dies geschah in den 60er Jahren zur Genüge. Der klassizistische, zweistöckige Vorlesungssaal wurde völlig verbaut. Nun denkt man vorsichtig über einen Rückbau in den ursprünglichen Zustand nach. Einstweilen begnügt man sich aber mit weniger gravierenden Veränderungen. Seit kurzer Zeit prangt zumindest das Emblem des Museums am Eingangstor. Damit der Wiener weiß, wo er hin muss, wenn ihm nach Leichen aus Wachs ist.