Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!

unbekannter Gast

Farbige Grabtürme in den Anden Boliviens#

Von

Hasso Hohmann


Eine der wohl trockensten und menschenleersten Gegenden auf unserem Globus ist das Altiplano südlich des Nevado Sajama. Dieser Vulkan mit 6542 m Höhe ist zugleich der höchste Berg Boliviens und Namensgeber für die zugehörige Provinz. Das Gebiet der farbig gestalteten Grabtürme liegt in dieser Provinz im Westen Boliviens nahe der Grenze zu Chile südlich des Vulkanriesen.

Der Nevado Sajama, mit 6542 m der höchste Berg Boliviens; man sieht ihn fast von überall als eine Art Orientierungspunkt
Der Nevado Sajama, mit 6542 m der höchste Berg Boliviens; man sieht ihn fast von überall als eine Art Orientierungspunkt.
Foto: H. Hohmann 2004, unter CC BY-SA 4.0
Der Nevado Sajama dominiert die Landschaft in einem großen Radius
Der Nevado Sajama dominiert die Landschaft in einem großen Radius.
Foto: H. Hohmann 2004, unter CC BY-SA 4.0

Schon lange plante ich ein Buch über Fassaden mit Gesichtern, das 2014 beim Verlag der Technischen Universität Graz und bei Academic Publishers Graz erschienen ist. Als ich in einer Publikation von Javier F. Escalante Moscoso über die vorspanische Architektur Boliviens einen Grabbau mit einem riesigen, ausdrucksstarken Gesicht entdeckte, schrieb ich dem Autor Escalante Moscoso, dem Chefarchäologen von Bolivien, und bat ihn, mir bekannt zu geben, wo dieser Bau steht, weil ich ihn genauer studieren und fotografieren wolle, um ihn in das geplante Buch aufnehmen zu können. Er antwortete, dass er den Bau persönlich nie gesehen habe und das Foto von Teresa Gisbert Mesa aufgenommen wurde. Die 1926 geborene, inzwischen 90-jährige Frau Gisbert hatte Architektur studiert und lebt in La Paz. Ihr Sohn Carlos Diego Mesa Gisbert, ein studierter Historiker, wurde von 2003 bis 2005 Boliviens Präsident. Escalante Moscoso meinte, ich solle Frau Gisbert nach dem Standort der Gesichts-Chullpa befragen.

Frau Gisbert antwortete zunächst nicht. Erst sehr viel später ließ sie mir einen Originalabzug von einem ihrer Fotos der Gesichts-Chullpa zusenden. Ein Buch von Teresa Gisbert Mesa, das wir, Adele Drexler und ich, in einer Buchhandlung in La Paz zufällig fanden, lieferte aber eine Skizze und eine vage Beschreibung des Standortes der farbigen Chullpas. Mit diesem Wissen begaben wir uns 2002 unter anderem nach Sabaya in die Sajama.

Als wir uns nach dem Frühstück um 8.00 Uhr aus dem altehrwürdigen Renaissance-Hotel im Kern der bolivianischen Hauptstadt La Paz aufmachten, um nach Sabaya zu fahren, ließen wir uns zunächst zur Touristeninformation bringen, die um 9.00 Uhr noch geschlossen war. Da wir nicht warten wollten, nahmen wir den Minibus 106 zum Busbahnhof. Dort sollte es alle “Empresas“, alle Busunternehmen, auch solche für eine Fahrt nach Sabaya geben. Dort sagte man uns, es gebe eine eigene Busgesellschaft Trans-Sabaya, die täglich um 23.00 Uhr abfährt und Trans-Bernal, die jeweils um 12.00 Uhr zu Mittag aufbricht. Beide fuhren direkt nach Sabaya und weiter nach Iquique. Leider war der Bus um 12.00 Uhr bereits ausgebucht. Daher setzte man uns auf eine Warteliste. Bis 12.00 fotografierten wir einige interessante Jugendstilhäuser am Rande des Stadtkerns und kauften ein paar Geschenke für die Rückkehr nach Österreich.

Dann aber um 12.00 Uhr wurde klar, dass drei der Passagiere nicht kommen und wir zwei dieser Sitze bekommen würden. Der Bus fuhr leider erst um ca. 13.15 Uhr ab. Es ging von La Paz ins südliche Altiplano über Oruro Richtung chilenische Grenze nach Südwesten. Unterwegs sahen wir die ausgetrocknete Laguna Uruuru und den Poopo-See. In den ausgedehnten flachen Salzbecken gleich neben der Straße suchten zahllose Flamingos nach Krebsen und anderem Essbaren. Einmal konnten wir auch in der Nähe eines verlassenen Lehmdorfes zwei Nandus sehen, die südamerikanische Version eines reinen Laufvogels. Sie werden hier allerdings nur maximal 1,40 cm groß. Auf einem Teil dieser südlichen Piste durch das Sajama-Gebiet wurde die Streckenführung begradigt und in Sektionen eine wasserbeständige, aufwendige Betondecke mit dicken Dehnfugen aufgebracht. Die Bauarbeiten waren mit vielen Stopps und kleinen Umwegen verbunden. In der Kleinstadt Sabaya kamen wir daher erst am Abend knapp vor Sonnenuntergang an.

Die Bushaltestelle lag bei der “Entel-Telefonverwaltung“ des Ortes. Wir versuchten herauszufinden, wie man am nächsten Tag von dort nach Norden in das Gebiet der farbigen Chullpas gelangen kann. Angesichts der schnell hereinbrechenden Dunkelheit musste das aber auf den nächsten Tag verschoben werden. Außerdem wollten wir noch etwas Ess- und Trinkbares kaufen. Für beides war es aber auch schon zu spät. Das einzige im Führer für diesen Ort angegebene Quartier in der Nähe der Busstation war geschlossen und die Chefin unauffindbar.

Zusammen mit zwei Franzosen, die hier mit Wagen, Fahrer, Führer und Helfer unterwegs waren, fanden wir eine alternative Unterbringung. Das Quartier hatte keinen Strom, war ungeheizt und daher in der Nacht recht kalt; im Hof gab es einen tropfenden Wasserhahn aber kein WC. Nachdem das Gepäck im Zimmer eingesperrt worden war gingen wir noch einmal hinaus und sahen uns den südlichen Sternenhimmel mit dem Kreuz des Südens an. Hier auf knapp 4000 m Seehöhe liegt die Luftfeuchtigkeit bei weniger als 2%, die Temperatur nachts meist deutlich unter 0°C und es gibt fast keinen Lichtsmog. Die Sterne sind daher unglaublich klar und scheinen zum Greifen nah - man glaubt jeden der vielen Milliarden Sterne einzeln ausmachen zu können.

Am nächsten Morgen standen wir um 7.00 Uhr auf. Ich machte eine Aufnahme von der schön beschienenen Kirche des Ortes. Dort gab es gerade eine Prozession - die Männer trugen bunte Ponchos und Umhängetäschchen mit bunten Quasten. Ihre sonstige Kleidung sah europäisiert aus.

Ich hatte eine Kopie des Gisbert Fotos dabei. Auf der Hauptstraße versuchten wir dann nochmals in Erfahrung zu bringen, wie wir nach Norden zu den farbigen Chullpas gelangen können. Dazu hielten wir lokale Autofahrer im Ort an und fragten, was sie machen würden, um dorthin zu gelangen. Wir boten selbstverständlich auch Geld für Sprit, Fahrt und Zeitaufwand an, falls sie selbst uns führen könnten. Der junge Lehrer einer kleinen Schule in der Nähe war bereit, uns mit seinem vierradangetriebenen Toyota Pickup zur Hauptgruppe dieser Chullpas nahe Chipaya zu fahren. Er meinte aber, dass es nach Sacabaya zu weit sei. Gemeinsam fuhren wir zur einzigen Tankstelle des Ortes. Dort tankte er 20 Liter Benzin in einen Reservetank. Vor mir zu meinen Füßen vor dem Beifahrersitz stand ein 5 Liter-Tank, aus dem der Motor gespeist wurde.

Nach dem Tanken ging es über Aquarica nach “Cruze de Valles“. Obwohl es eigentlich ein normaler Wochen- und Schultag war, gab der Lehrer seinen insgesamt 15 Schülern für diesen Tag frei. Er nahm zwei von ihnen und einen Sanitäter sowie Decken, Jacken und etwas Ess- und Trinkbares mit. Um ca. 10.30 Uhr ging es los. Die Fahrt führte uns durch weitgehend unwegsames Gelände mit wenigen zweifelhaften Fahrspuren zwischen Felsen, Sand und unzähligen Ichu-Grasbüscheln. Der Sanitäter hatte behauptet, er kenne die farbigen Chullpas. Später stellte sich heraus, dass er der Einzige war, der schon einmal von ihnen gehört hatte und auch schon einmal in dieses Gebiet gefahren war, dass er aber nur eine vage Vorstellung davon hatte, wie man zu den Chullpas gelangt. Ich wusste, dass sie nach der Skizze von Gisbert etwa 80 km nördlich von Sabaya liegen müssten.

Nach etwa zwei Stunden Fahrt kamen wir an eine Stelle, wo wir uns einem breiten Gürtel von aus feinstem Sand geformten Sicheldünen gegenüber sahen. Hier hätten wir Metallschienen gut brauchen können. Bis auf den Lehrer, der am Steuer sitzen blieb, stiegen nun alle aus und versuchten das Fahrzeug mit Motor- und Menschenkraft durch die Dünen zu schieben. Wir schoben alle bis an die Grenzen unserer Kräfte und brauchten etwa eineinhalb Stunden, um zu erkennen, dass wir gescheitert waren und versuchen mussten, eine alternative Route zu finden. Die ganze körperliche Anstrengung auf über 4000 m Höhe in der stechenden und sengenden Mittagssonne war umsonst gewesen und musste wiederholt werden.

Wir fuhren also ein Stück zurück und folgten einer anderen Fahrspur. So kamen wir zu einer Stelle, bei der die Sandmengen nicht so hoch und der Gürtel weniger breit war. Hier brauchten wir aber nochmals fast eine volle Stunde zur Überquerung der Sandbarriere. Als der Lehrer einmal dabei seine Fahrertür heftig zuschlug ohne darauf zu achten, dass einer seiner Schüler gerade auf die Ladefläche kletterte und sich dabei am Türprofil festhielt, klemmte er die Finger des Buben stark ein, sodass sie bluteten – gut dass wir einen Sanitäter dabei hatten, der alles professionell desinfizierte und verband. Die Strecke führte danach durch ein verlassenes Dorf, dessen Name uns am Abend mit “Tonapa“ angegeben wurde.

Durch die Versuche, die Sicheldünen zu queren, hatten wir deutlich mehr Sprit verbraucht als wir erwartet hatten. Als wir später einen einsamen Jäger trafen, der wie aus dem Nichts plötzlich vor uns stand, fragte unser Lehrer nach der Möglichkeit, in dieser Region Sprit zu erhalten. Der Mann wohnte in einem sehr kleinen Dorf nur wenige Kilometer entfernt und bot uns ca. 8 Liter Sprit zu einem um 25% erhöhten Preis an. Wir fuhren zusammen mit ihm in sein Dorf, wo er mit einem zweiten Mann die letzten und einzigen Bewohner des Dorfes stellte. Dann beschrieb er uns den Weg zu einem Haus, in dem eine Frau mittleren Alters lebte, die vielleicht auch noch etwas Sprit bei sich haben könnte. Wir fuhren auch zu ihr, trafen sie an und machten mit ihr einen Deal! Wir würden sie auf dem Rückweg abholen und gratis nach Sabaya mitnehmen, wenn sie uns ihre ca. 9 Liter Sprit ebenfalls zu einem 25% erhöhten Preis verkauft.

Wir fuhren weiter über Negrillos nach Julo, wo einige der wenigen Bewohner aus der gesamten Umgebung ein eher trauriges Fest feierten. Es waren vielleicht 10 Personen zusammen gekommen und alle Teilnehmer waren völlig betrunken. Wir wollten wissen, wie wir von hier zu den farbigen Chullpas weiter kommen. Einer beschrieb uns lallend den Weg und wir setzten nach kurzer Pause die Fahrt fort. Auch hier konnten wir nochmals etwas Sprit zutanken. Es ging lange an einem Hang zwischen unbefahrbaren felsigen Hügel im Westen und einem ausgedehnten salzigen Sumpf im Osten weiter über Cruzani nach Norden und dann nach Westen auf eine weite Ebene mit Ichu-Gras-Büscheln und niedrigen hartem Büschen, die in fast gleichmäßigen Abständen auf dem kargen Untergrund wuchsen. Als es etwa 16.30 Uhr wurde, sahen wir die ersten farbig gestalteten Chullpas, das Ziel unserer heutigen Anstrengungen. Wir hatten 6 Stunden für die Strecke von etwa 80 km gebraucht.

Eine der farbigen Chullpas (6/3) hat vorne abwechselnd rote und weiße Felder wie bei einem Schachbrett
Eine der farbigen Chullpas (6/3) hat vorne abwechselnd rote und weiße Felder wie bei einem Schachbrett und trägt auf halber Höhe einen Mäander. Bald schon erkannte ich, dass die äußeren Lehmziegel mit den Mustern nicht angemalt, sondern durchgefärbt sind, damit die Farben nicht mit dem ersten Regen verschwinden können. Bei dieser Chullpa hatte der rote Farbstoff die Lehmziegel gegen Regenwasser resistenter gemacht, als die weiße Farbe; dadurch hatte sich sekundär auf der Fassade ein Relief gebildet. Der Berg im Hintergrund ist 5800 m hoch und steht unmittelbar auf der Grenz zu Chile.
Foto: H. Hohmann 2002, unter CC BY-SA 4.0
Die Rekonstruktion der Chullpa 6/3
Die Rekonstruktion der Chullpa 6/3
Zeichnung: H. Hohmann 2003, unter CC BY-SA 4.0
Auch Chullpa 5/1 zeigt das Phänomen des härtenden roten Farbstoffes sehr deutlich
Auch Chullpa 5/1 zeigt das Phänomen des härtenden roten Farbstoffes sehr deutlich. Hier sind die Nord- und die der Witterung am stärksten ausgesetzte Westseite zu sehen.
Foto; H. Hohmann 2002, unter CC BY-SA 4.0
Das Muster der Chullpa 5/3 vorne ist stark erodiert und zeigt Rauten
Das Muster der Chullpa 5/3 vorne ist stark erodiert und zeigt Rauten, die an der Symmetrieachse gespiegelt sind. Wo die Rauten links rot sind, werden sie rechts weiß dargestellt und umgekehrt. Die Chullpa dahinter hat ein schlichtes Schachbrettmuster mit weißen und roten Feldern.
Foto: H. Hohmann 2002, unter CC BY-SA 4.0
Diese mehr als 5 m hohe Chullpa 3/2 steht in Gruppe 3 und verfügt über ein markantes Muster
Diese mehr als 5 m hohe Chullpa 3/2 steht in Gruppe 3 und verfügt über ein markantes Muster.
Foto: H. Hohmann 2002, unter CC BY-SA 4.0
Die Nordfassade der Chullpa 3/2
Die Nordfassade der Chullpa 3/2
Foto: H. Hohmann 2002, unter CC BY-SA 4.0
Chullpa 3/1 vorne ist die wohl farbenprächtigste
Chullpa 3/1 vorne ist die wohl farbenprächtigste. Sie trägt Sternmotive in Form von Rauten in den Farben Weiß, Dunkelblau, Hellblau und Rot auf rotem Grund; dazu kommt noch das Gelb des Lehms oben und unten. Dahinter die Chullpa 3/2. Beide sind gut 5 m hoch.
Foto: A. Drexler 2002, unter CC BY-SA 4.0
Die zwei Chullpas 3/1 und 3/2 mit einer Rekonstruktion überlagert
Die zwei Chullpas 3/1 und 3/2 mit einer Rekonstruktion überlagert.
Foto: A. Drexler 2002, Zeichnung: H. Hohmann 2003, digitale Bearbeitung: Wolfgang Dokonal 2004, unter CC BY-SA 4.0

Die Grabbauten sind von ihrer Architektur sehr schlichte rektanguläre Schachteln, die im Wesentlichen aus Lehmziegeln errichtet wurden. Nur die Stürze von Eingängen und Innennischen oder in manchen Fällen auch die Gewölbeelemente der Kraggewölbe sind aus Stein geformt. Viele Chullpas erreichen Höhen von über 5 m. Alle haben oder hatten nur einen Eingang, der relativ genau nach Osten gerichtet ist. Nur einige weichen um ein, eineinhalb oder zwei Grad von der Ostrichtung nach Norden oder Süden leicht ab.

Ihre in manchen Fällen recht aufwendig farbig gestalteten Oberflächen werden mit Hilfe von durchgefärbten Lehmziegeln erzeugt. Dadurch sind die farbigen Muster auch noch nach mehr als 500 Jahren gut zu erkennen und nicht bereits vom ersten Regen heruntergewaschen worden. Insgesamt ist es erstaunlich, dass diese Lehm-Chullpas nach über 500 Jahren überhaupt noch stehen und ihre Muster immer noch zu erkennen sind. Dabei hilft jedenfalls die extreme Trockenheit in dieser Region des Altiplanos. Dennoch gibt es auch hier immer wieder und manchmal sogar recht heftige Regenfälle. Die dem Wetter zugewandten Westseiten sind daher in einem wesentlich schlechteren Zustand als die Ostseiten.

Die Muster auf den Chullpas erinnern an Textilien aus der Inkazeit und sind, wie die in der Schweiz lebende Ethnologin Eva Fischer sagt, auch im Zusammenhang mit dem Status der bestatteten Personen in der damaligen Inka-Gesellschaft zu sehen. Als Frau Fischer die letzten Vorbereitungen für einen Vortrag auf einem Kongress in Barcelona traf, rief sie mich knapp vor ihrem Abflug aufgeregt in Graz an, sie habe soeben die Kopie eines Aufsatzes in einer bolivianischen Zeitschrift über genau diese Chullpas erhalten, in dem die Bauten in dem mitpublizierten Lageplan alle um 45° gegen die Westostrichtung verdreht dargestellt seien. Die Frage war nun, welcher Plan stimmt.

Früher hätte man nochmals mühsam und zeitraubend nach Bolivien reisen müssen, um die Richtigkeit der einen oder der anderen Angabe abchecken zu können. Nach einer ersten kurzen Ratlosigkeit erinnerte ich mich aber, dass ich mehrere GPS-Messungen gemacht hatte und daher die Bauten vielleicht im Google Earth finden sollte. Nach Eingabe der Koordinaten fand ich die Bauten in einer sehr klar wiedergegebenen Zone, so dass ich an Hand der Satellitenfotos sogar meinen eigenen Plan noch leicht justieren konnte. Alle Bauten sind grundsätzlich nach Osten orientiert, einige der Chullpas weichen aber geringfügig um einen halben, einen, eineinhalb, wenige bis zu zwei Grad nach Nord oder nach Süd von der reinen Ostrichtung ab. Ich konnte Frau Fischer schon nach kurzem Recherchieren die Richtigkeit meiner Pläne bestätigen. Zwei Jahre später führte ich für jede Chullpa zusätzlich eine eigene Bussolenmessung durch.

Man kann vielleicht bei den Chullpas von einer Art dritten Haut der Verstorbenen sprechen. Sie wurden ursprünglich mit ihrer Kleidung, also mit dem bestattet, was wir als die zweite Haut des Menschen bezeichnen. Natürlich sind die Chullpas, die Grabbauten eine weitere schützende Hülle, eine architektonische dritte Haut der Verstorbenen. Das wird besonders durch die textilen Motive, mit denen die Bauten an ihren Fassaden “umwickelt, quasi eingekleidet“ sind, unterstrichen.

Die Chullpa-Gruppen mit farbig gestalteten Fassaden nannte ich damals nach den Auskünften der Leute, die wir im Umraum antrafen und danach fragten, “Halio Chullpas“. Theresa Gisbert nannte sie Rio Lauca Chullpas, wie ich erst später herausfand. Und tatsächlich finden sie sich in einem Gebiet nördlich und südlich des Rio Lauca. Die Zone der farbig gestalteten Chullpas hat eine Nordsüdausdehnung von ca. 12 km und eine Ostwestausdehnung von maximal 2 km. In vielen Fällen stehen die Chullpas paarweise nebeneinander und bilden insgesamt größere Gruppen.

Als wir bei den Halio-Chullpas eintrafen, stand die Sonne bereits tief am westlichen Himmel über den Grenzbergen zu Chile. Während die gut erhaltenen, regenabgewandten Seiten der Chullpas auf der jeweiligen Ostseite liegen, schien die Sonne sie von Westen an. Trotz des grellen Gegenlichtes fotografierten wir die Chullpas unter Zeitdruck, da es nur diese Chance gab und die Sonne schon vor 18.00 Uhr hinter den Bergen verschwinden würde und es bald danach sehr schnell dunkel werden sollte. Auf einer Fläche von 500 m mal 1000 m standen in 4 Gruppen gegliedert etwa 40 Chullpas, die ich fotografieren und auch im Standpunkt wenigstens grob bestimmen wollte. Damals gelangen mir 2 GPS-Messungen, je eine für die nördliche Gruppe und eine für die mittlere der drei südlichen Gruppen und rund 100 Fotos. Dabei mussten wir schnell laufen, um von einer Gruppe zur nächsten zu gelangen. Fast alle der Aufnahmen waren dann aber trotz der Widernisse mit Gegenlicht und Zeitdruck nach ihrer Entwicklung erfreulicherweise für Veröffentlichungen geeignet.

Als es dunkel wurde, kamen wir beim Toyota wieder zusammen, tranken und aßen schnell etwas und dann ging es auf den Rückweg. Der Lehrer hatte immerhin zwei junge Schüler mitgenommen, deren Eltern in seinem Dorf warteten. Außerdem mussten wir noch die Frau mit der Spritreserve abholen und unser Fahrer musste am nächsten Tag wieder in der Schule unterrichten. Nach Sonnenuntergang war die Temperatur schlagartig gesunken. Zunächst empfanden wir dies als sehr angenehm, bald aber war es allen deutlich zu kalt. Die mitgenommenen Decken erfüllten nun ihren Zweck besonders für die Personen auf der Ladefläche des Pickups. Der Sternenhimmel war hier für uns einfach überwältigend. Auf dieser Höhe bei unter 2% Luftfeuchtigkeit, bei etwa -10° bis später -20°C und weitab von irgendwelchen Lichtquellen ist der Nachthimmel unglaublich klar, detailreich und schön.

Wir fanden auch zur Frau mit dem benötigten Sprit zurück und nahmen sie samt dem Treibstoff mit. Beim Sanddünengürtel mussten wir wieder intensiv schieben, schaufeln, abgerissene Sträucher unter die Reifen schieben und wir schafften es in etwas kürzerer Zeit als am Tag über die Barriere. Auch der Bub mit den verletzten Fingern machte bereits wieder mit. Um ca. 22.00 Uhr erreichten wir Sabaya, zahlten einen durch die vielen Spritzukäufe und auch für den wesentlich höheren Zeitaufwand bedingten höheren Preis, als ursprünglich ausgemacht. Wir verabschiedeten uns schnell, damit die zwei Schüler möglichst bald von ihren Eltern übernommen werden konnten. Das Hostal der letzten Nacht war inzwischen geschlossen, sodass wir für diese Nacht ein Lehmhaus neben dem Entel-Geschäft beziehen mussten – hier gab es immerhin ein externes WC und ein sehr einfaches Bad. Wir fielen auf das etwas schmutzige Bettzeug und schliefen ohne Abendessen sofort ein.

***

Wir hatten 2002 viele sehr schöne farbig gestaltete Halio-Chullpas besucht. Leider war unter diesen nicht jene mit dem riesigen Gesicht. Das aber war ursprünglich der eigentliche Anlass gewesen. 2003 ließ sich im Programm dieser Südamerikareise ein Besuch der relativ entlegenen Provinz Sajama nicht einbauen. Aber 2004 wurde ein nochmaliger Besuch möglich.

Diesmal fuhr ich mit dem Bus von Arica, der nördlichsten Hafenstadt Chiles, in Richtung La Paz nach Bolivien, um an der höchsten Stelle dieser Reiseroute unter dem Nevado Sajama auszusteigen. Der Bus braucht für die Fahrt auf der kurvenreichen Strecke hinauf etwa dreieinhalb Stunden und überwindet dabei mehr als 4000 Höhenmeter.

Zwei Vulkane nördlich des Nevado Sajama. Der See vorne war auch am Nachmittag trotz intensiver Sonne immer noch zugefroren
Zwei Vulkane nördlich des Nevado Sajama. Der See vorne war auch am Nachmittag trotz intensiver Sonne immer noch zugefroren.
Foto: H. Hohmann 2004, unter CC BY-SA 4.0

Auf halber Höhe stieg eine junge spanische Studentin aus Madrid zu und setzte sich auf den erst knapp davor neben mir frei gewordenen Platz. Sie hatte sich in einem kleinen Ort auf etwas über 2000 m für die Höhe des Altiplanos vorbereiten wollen. Als ich ihr nach der Grenze zwischen Chile und Bolivien sagte, dass ich 15 km nach der Grenze, also sehr bald aussteigen würde, fragte sie nach meinem Ziel.

Bald war klar, sie wollte mit aussteigen und mit zu den Halio-Chullpas fahren, obwohl ich noch gar nicht wusste, wie ich das logistisch schaffen würde. Als wir ausstiegen, stellte sich dann heraus, dass sie trotz ihrer Adaptierung nicht in der Lage war, ihren Rucksack selbst zu tragen. Ich hatte meinen eigenen schweren Rucksack mit 120 Filmrollen und Kameraausrüstung und konnte daher einen zweiten nicht auch noch tragen. Deswegen versteckten wir ihren zwischen einigen Felsbrocken so, dass er von Passanten nicht gesehen werden konnte. Danach gingen wir die relativ kurze Strecke zum Lehmziegeldorf Lagunas und fragten nach einem Quartier. Ich schickte einen jungen Bolivianer mit der Spanierin zurück zum Gepäck und ließ meinen Rucksack in dem inzwischen angemieteten Lehmhaus im Hof hinter der Tienda, einem Gemischtwarenladen, der zum Hauptplatz hin orientiert war.

Alle Gebäude des Dorfes waren aus luftgetrockneten Lehmziegeln errichtet. Fast alle Häuser trugen noch Ichú-Gras-Dächer. Die Straßen und der Platz waren nicht befestigt. Von den zwei kleinen Kirchen stand die größere mitten im Dorf neben dem Hauptplatz und war von einer Mauer mit Durchgängen vom Rest des Dorfes getrennt. Das Dorf-Ensemble sah wohl fast genauso aus, wie die Dörfer zur Zeit der Conquista. Die Gemeinde lebte weitgehend von der Zucht von Lamas, deren Fleisch, Häuten und Wolle. Die Haut wurde zu Leder verarbeitet. Das dünn geschnittene Fleisch trocknete man an Leinen aufgehängt im Wind. Das ist eine effektive Art der Fleischkonservierung und das Fleisch kann so auch später verkauft werden.

Da ich am folgenden Tag nach Süden in das Gebiet der farbig gestalteten Halio Chullpas aufbrechen wollte, fragte ich nach Möglichkeiten, ein vierradangetriebenes Fahrzeug für den nächsten Tag zu mieten. Bald hatte sich diese Meldung im Dorf herumgesprochen und einer der Bewohner kam mit einem Microbus des Typs Toyota, an den Platz, um mit mir über den Fahrpreis zu verhandeln. Wir einigten uns auf einen für beide akzeptablen Preis für die Fahrt zu den Halio Chullpas und für die Dauer des gesamten nächsten Tages.

Inzwischen war das Gepäck der Spanierin auch in der kleinen Hütte angekommen. Danach aßen wir in dem kleinen Geschäft Eierspeis auf Brot und tranken dazu einen Matetee de Coca. Als es dunkel wurde, teilte uns die Quartiergeberin mit, dass an diesem Tag Nationalfeiertag Boliviens sei und daher am Abend ein Fackelzug und etliche Aufführungen bei der kleinen Schule von Lagunas stattfinden werden. Natürlich wollten wir dabei sein.

Junger Bursche aus Lagunas vor brennendem Ichú-Grasbüschl.
Junger Bursche aus Lagunas vor brennendem Ichú-Grasbüschl., unter CC BY-SA 4.0
Kinder aus dem Dorf mit Anna, der Spanierin.
Kinder aus dem Dorf mit Anna, der Spanierin., unter CC BY-SA 4.0

Zunächst ging es zwischen den Grasbüscheln zum Friedhof, wo der Pfarrer eine Ansprache hielt, um so auch die Toten am Fest teilhaben zu lassen. Dabei wurden auch zwei kleine Kapellen aufgesucht. Fast alle Bewohner des Ortes hatten brennende Fackeln dabei. Kinder versuchten das Ichú-Gras in Brand zu stecken und tollten zwischen den zahllosen winzigen Hügeln, die sich jeweils an den Grasbüscheln gebildet hatten. Dann ging die Prozession zurück ins Dorf zur Kirche am Hauptplatz, wo es weitere Ansprachen gab. Dazu wurde Panflötenmusik gespielt, die hier in der Höhe eine ganz eigene Resonanz hat, weil die Luft so dünn ist. Danach ließen Aktivisten Cojetes steigen, selbstgefertigte Feuerwerksraketen, von denen viele nicht funktionierten.

Dann ging es zur Schule, einem eingeschossigen Bau mit U-förmigem Grundriss. Das U schloss eine niedrige, gestreckte Plattform etwa auf Höhe der Klassenzimmer ein, die als Aufführungsbühne genutzt wurde. Vor dieser Bühne hatte man Holzbalken für einen künftigen Dachstuhl auf Steinen aus der Umgebung in mehreren Reihen aufgebockt. Hier konnten die Zuschauer sitzen.

Die Vorbereitungen waren noch nicht ganz abgeschlossen, sodass wir schon einmal probesitzen konnten. Auf dem Dach der Schule gab es als große Neuerung Solarzellen, sodass die Schule wohl das einzige Bauwerk mit elektrischem Licht im Dorf war. Dann aber erschienen im schwachen Licht von zwei Glühbirnen die ersten Schülerinnen und Schüler immer nur für wenige Minuten auf der Bühne und führten sehr unterschiedliche kurze Stücke auf. Nach etwa einer Stunde Aufführungen wurde mir trotz Anoraks beim Sitzen doch etwas kühl und ich fragte die Lehrerin neben mir, wie hoch die Temperatur an diesem Abend eigentlich liegt. Sie nahm mich gleich an der Hand und zeigte mir ein riesiges Thermometer an der linken Außenfassade des Schulgebäudes. Trotz des schlechten Lichtes konnte ich gut erkennen, dass es bereits minus fünfzehn Grad Celsius hatte – mich wunderte nichts mehr – so etwas hält man offenbar nur bei extrem niedriger Luftfeuchtigkeit so gut aus.

Wir sahen uns die Show bis zum Schluss an und von Zeit zu Zeit massierte ich mir kalt werdende Körperstellen. Zwischendurch musste ich immer wieder zum Sternenhimmel aufsehen, der einfach faszinierend schön aussah. Viele der völlig fremden Sternbilder des südlichen Firmamentes hatte ich noch nie so bewusst wahrgenommen. Auch das Kreuz des Südens wurde mir gezeigt. Nach Beendigung des Programms verabschiedeten wir uns, bedankten uns und gingen bald schlafen.

Am Morgen musste das Zähnebürsten ohne Wasser funktionieren, da das mitgebrachte Wasser in der Plastikflasche im Zimmer über Nacht bis in den Kern gefroren war. In der Nacht hatte ich etwas Kopfweh und nahm eine Aspirin-Tablette dagegen. An den Fenstern gab es in der Früh schöne Eisblumen. Das schnelle Frühstück in der Tienda bestand nochmals aus Eierspeis auf Brot und Matetee de Coca.

Um 8.00 Uhr ging es dann mit Einem der Bewohner von Lagunas als Fahrer und mit Anna aus Madrid in dem geräumigen Toyota-Micro-Bus nach Süden ab zu den nördlichen Halio Chullpas. Wir passierten während der Fahrt die kleinen Orte Chachacomani, Magache und Macaya. Das Ziel beider Fahrten erreichte ich gleich in der ersten Gräbergruppe. Hier stand die große farbige Lehmchullpa mit dem riesigen Gesicht. Gleich rechts daneben steht eine aus polygonalen Steinen errichtete Chullpa mit einem der so charakteristischen inkazeitlichen Zyklopenmauerwerke, bei dem die nach außen gebauchten Steine so perfekt geschnitten, zugeschliffen und zusammengesetzt sind, dass sie ohne den geringsten Spalt zu lassen ein einzigartiges, perfektes Trockenmauerwerk ergeben, bei dem keine Messerspitze in den Fugen Platz findet. Diese Chullpa ist zugleich ein klares Zeichen für das Alter auch der daneben aus Lehm errichteten Mausoleen.

Die Kirche von Macaya ist, wie auch die anderen Bauten, mit Ichu-Gras gedeckt
Die Kirche von Macaya ist, wie auch die anderen Bauten, mit Ichu-Gras gedeckt. Häuser, die nicht mehr gebraucht werden, fallen in sich zusammen und sind nach 100 Jahren wieder zu dem geworden, was sie einmal waren., unter CC BY-SA 4.0
Diese Chullpa mit einem riesigen Gesicht war der Grund für zwei Reisen in die Region um den Rio Lauca
Diese Chullpa mit einem riesigen Gesicht war der Grund für zwei Reisen in die Region um den Rio Lauca.
Foto: H. Hohmann 2004, unter CC BY-SA 4.0
Die offensichtlich inkazeitliche Chullpa rechts der Gesichts-Chullpa.
Die offensichtlich inkazeitliche Chullpa rechts der Gesichts-Chullpa.
Foto: H. Hohmann 2004, unter CC BY-SA 4.0
Typische Landschaft der semiariden Sajama südlich von Lagunas
Typische Landschaft der semiariden Sajama südlich von Lagunas.
Foto: H. Hohmann 2004, unter CC BY-SA 4.0

Die südlich davon gelegene Gruppe hingegen war weniger aufwendig gestaltet. Dieses Mal fotografierte ich die Chullpas nicht nur rundum, sondern nahm auch von jeder eine GPS-Messung für die Standortbestimmung und ermittelte die Abmessungen der Grabbauten. Ergänzend führte ich bei jeder eine Bussolenmessung zur Bestimmung ihrer Ausrichtung durch. Bei einigen der Gebäude konnte man die innere Konstruktion sehen, weil sie teilweise eingestürzt waren. Sehr oft sind die Decksteine bei den Kraggewölben, die Oberschwellen des Einganges und die der seitlichen Nischen aus Stein. Alles andere ist aus Lehm gebaut.

Als wir dann zum Río Lauka kamen, einem Hauptfluss dieser Region, der auf 4000 m Seehöhe aus Chile hier über die Grenze in die große Hochebene, das Altiplano fließt und dort versickert, war klar, dass die Kälte der Nacht nicht gereicht hatte, eine tragfähige, dicke Eisschicht zu bilden, über die man hätte fahren können. Wir mussten eine Furt suchen. Daher fuhren wir den Fluss aufwärts und trafen dabei auf einen Jäger, der zu uns in den Wagen stieg und uns die beste Furt der Gegend in etwa zwei Kilometern Entfernung zeigte. Er half sogar noch mit, den Wagen durch das eisige Wasser zu schieben. Es war durchaus spannend, weil sich die Räder nirgends eingraben durften und das Wasser bei der Durchquerung bis in den Bus hineinkam. Der Wagen schaffte es aber und ich konnte feststellen, dass die Strecke zu den vier südlichen Chullpa-Gruppen vom Fluss aus nicht wirklich weit war.

Diesmal war es deutlich früher am Nachmittag und die Sonne stand höher am westlichen Himmel. So konnte ich die Bauwerke der vier südlichen Gruppen in einem anderen besseren Licht fotografieren. Auch die Messungen von Ausrichtung, Position und die Abmessungen der Grabbauten konnten diesmal ohne Stress durchgeführt werden. Dann ging es zurück und mit Schwung durch das Wasser des Río Lauca bei der nun bekannten Furt. Das Eis hatte sich inzwischen weitgehend aufgelöst. Wir schafften es auch zurück durch alle Hindernisse. An einer Stelle mussten wir längs durch ein fließendes Wasser fahren. Abschließend konnte ich feststellen, dass man von Norden aus leichter zu den Halio Chullpas gelangt, als von Süden. Der Rio Lauca verhindert offenbar nördlich seines Laufes die Bildung von Sanddünen. Nach einer weiteren Nacht im kalten Lehmhaus in Lagunas ging es weiter nach La Paz.


Bild 'sim-link'
Austria-Forum Beiträge in ähnlichen Gebieten