„Eppur si muove“ (und sie bewegt sich doch)[1]#
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 408/2022
Von
Herbert Kohlmaier
Es ist eine unentrinnbare Tatsache, die der Menschheitsgeschichte eigen ist. Alle gesellschaftlichen Gebilde erleben ihr Werden und ihren Niedergang. Das gilt für Staaten, mögen sie noch so mächtig sein, für alle sozialen Zusammenschlüsse, ebenso Kulturen und geistige Strömungen. Fragen wir uns nun: Gilt dieses schicksalshafte Gesetz auch für die Kirchen oder gar für das gesamte Christentum? Oder kann es hier anders sein?
Die römisch-katholische Kirche besteht bald zwei Jahrtausende und ihr gehören insgesamt mehr als eine Milliarde Menschen an. Sie verliert zwar in den hoch entwickelten Ländern Mitglieder, doch wächst sie in verschiedenen Regionen nach wie vor. Ist somit dieser Glaubensgemeinschaft „ewiger“ Bestand gegönnt? Sie hatte zwar im Lauf der Geschichte zahlreiche Erschütterungen und mehrfache Spaltung zu ertragen, aber stellte bisher immer noch ein imposantes Gebilde dar.
Das verdankt die Kirche Roms mehreren Umständen. Sie war stets straff organisiert und auch diszipliniert. Es gab zahlreiche Bündnisse weltlicher und geistlicher Macht. Für viele Generationen verkörperte die Kirche einfach den Glauben, Staaten förderten sie und tun dies noch immer. Sie prägte unsere Kultur. Denken wir hier auch an die Auseinandersetzung mit dem Weltkommunismus, in der die Kirche letztlich überlegen war – Beispiel Polen.
Doch vor allem in der „westlichen“ Welt scheint sich nun eine Wende abzuzeichnen. Ein Phänomen ist wahrnehmbar, wie es oft in Zeiten des Abstiegs auftritt. Bestimmter Ereignisse geben bereits bestehendem Unbehagen Auftrieb, das dann immer stärker wird, also gleichsam losbricht. Im Fall der katholischen Kirche sind es die zahlreichen Fälle sexuellen oder überhaupt des Machtmissbrauchs, die man vertuschen wollte. Damit trat ganz ins Blickfeld, was den Menschen schon längere Zeit missfällt und nun breite Ablehnung auslöst.
Was hat aber zunehmende Entfremdung und Vertrauensverlust herbeigeführt? Man kann es sehr einfach zusammenfassen. Die Kirche hat aufgrund ihres Selbstverständnisses und ihrer Annahme göttlicher Einsetzung eine Glaubenslehre beibehalten, die aus der Antike stammt. Dasselbe gilt für ihr System, das strikt autoritär geartet ist. Beides wurde, obwohl aufgrund zahlreicher Fehler nicht hinnehmbar, erstaunlicher Weise über lange Zeit eher widerspruchslos zur Kenntnis genommen. Doch ein Ignorieren wissenschaftlicher und demokratische Standards kann auf Dauer nicht ohne Folgen bleiben.
Heutzutage ist die im Katechismus zusammengefasste Glaubenslehre auch unter Katholiken weithin unbekannt und wird, soweit diese mit ihr konfrontiert werden, als nicht plausibel empfunden. Vom antiquierten Regelwerk des Kirchengesetzbuchs fühlt man sich zwar nicht unmittelbar betroffen, aber Vorschriften wie der Zölibat oder der Ausschluss von Frauen von den Ämtern bewirken Ärgernis. Haben zunächst Reformkräfte versucht, einzelne Veränderungen herbeizuführen, breitet sich kritische Distanz immer mehr aus. Als Folge gibt es zahlreiche Austritte.
Die Kirche ist unter Rechtfertigungsdruck geraten und muss das begründen, was viele ablehnen, doch es gelingt ihr nicht. Deutlich erkennbar ist, dass nach wie vor konservative Kräfte, die auf dem Bisherigen beharren, entscheidenden Einfluss haben. Papst Franziskus erkennt das Übel des Klerikalismus, doch er versucht angesichts dessen „sanfte“ Methoden der Verbesserung. Kann er damit erfolgreich sein? Scheut er doch vor energischen Schritten zurück, um Spaltung zu vermeiden. Diese ist aber schon längst zwischen Kirchenleitung und Kirchenvolk eingetreten!
Entwicklungen, die aus sich heraus wirken#
Es ist unübersehbar: Das System ist in einen Zustand der Auflösung geraten. Seit der unglückseligen „Pillenenzyklika“ Humanae vitae trennt sich das Kirchenvolk von den kirchlichen Vorschriften, die nur mehr auf dem Papier stehen. Für jene, die aus gutem Grund in der Kirche bleiben, wird selbständiges Denken und Handeln immer mehr zur Regel. Man versucht, sich seinen eigenen Glauben zurechtzulegen.
An sich wäre anzunehmen, dass dieser weitgehende Autoritätsverlust zur Katastrophe führen muss. Doch so seltsam es erscheinen mag: Die Auflösung der alten Ordnung könnte die Zukunft der Kirche retten! Sie erweckt Kräfte bei jenen, die den Glauben an sich, aber nicht den Kirchenglauben ernst nehmen. Damit ergibt sich für die Kirche eine Chance. Wollte sie klug handeln, hätte sie die Möglichkeit, eine ungebundene, aber weiterhin wirksame Religiosität aufzugreifen und nutzbar zu machen. Offen, ideenreich, kreativ und vor allem gemeinsam mit den Menschen, die in der heutigen Welt moralische Defizite erkennen.
Entscheidend wird also sein, ob die Hierarchie das sich ändernde Verständnis des Glaubens als Bedrohung oder als Ausweg betrachtet. Kann man erhoffen, dass man sich zu dieser und der Kirche gar nicht eigenen Haltung entschließt? An sich bleibt ihr keine andere Wahl, als die zunehmend in Anspruch genommene Freiheit der Christenmenschen zu akzeptieren. Jedes Einschärfen oder Durchsetzen des alten Regelwerks würde ins Leere gehen und die Situation nur verschlimmern.
Papst Franziskus scheint begriffen zu haben, dass Erneuerung nottut. Ihm ist es, wie seine wichtigen Dokumente zeigen, offenbar wesentliches Anliegen, die eigentliche Substanz des Christentums und nicht das System in den Mittelpunkt zu stellen. Wenn man ihm auch mangelnde Durchsetzungskraft vorwerfen kann, setzt er unübersehbare Zeichen. Er hat eine erhebliche Klimaänderung in der Kirche herbeigeführt. Es kann nun offen diskutiert und auch Änderung eingefordert werden, ohne dass wie bei seinen Vorgängern Zurechtweisung oder Sanktionen erfolgen. Das bedeutet einen Paradigmenwechsel.
Die Initiative eines umfassenden Synodalen Prozesses weist ganz in diese Richtung. Übersehen wir nicht und halten es fest: Wenn man, wie es jetzt der Fall ist, allen die Möglichkeit gibt, Neues und Anderes zu diskutieren, gibt man zu, dass dazu Bedarf besteht! Erneuerung einzumahnen, stieß bisher auf eine Mauer sturen Widerstands. Das bewirkte Frustration. Wenn nun zugehört wird, ändert das allein die Situation entscheidend. Was an selbständigem Denken „illegal“ war, wird nun zum Beitrag für die Erreichung von Neuem und Besseren, das Negative zum Positiven.
Das Mitwirken an Veränderung bedeutet immer eine fruchtbringende Herausforderung und findet längst statt. Als ein Beispiel von vielen sei das Streben nach Verbesserung des so genannten Glaubensbekenntnisses angeführt, wie es heute in der Messe aufgesagt werden muss. Es gibt das Weltbild des Altertums wieder und ist untauglich. In zahlreichen Vorschlägen versuchen daher denkende Menschen, eine Form zu finden, die den eigentlichen Inhalt der christlichen Botschaft ausdrückt. „Ich glaube an die Kraft der Liebe … den Segen des Verzeihens...“
Rom müsste unbedingt zulassen, dass Derartiges in den Feiern auch tatsächlich verwendet wird! Nach wie vor muss das Vorgeschriebene eingehalten werden, aber Tatsache ist, dass die Entwicklung zu erneuerten Ausdrucksformen des Glaubens stattfindet und nicht aufzuhalten ist. Laien predigen und Frauen leiten frei gestaltete Gottesdienste. Nicht wenige kleinere oder familiäre Gemeinschaften brechen das Brot, ohne dass ein „in persona Christi“ handelnder geweihter zölibatärer Mann die „Wandlung“ der Gaben herbeiführt.
All das bedeutet kein Abgleiten ins Beliebige. Jene, die so handeln, sind ernsthafte und ihrer Verantwortung bewusste Christen. Im Rechtsleben gibt es den Begriff der normativen Kraft des Faktischen. Dem, was die Menschen als richtig empfinden und tun, ist bei Ordnung der Dinge Rechnung zu tragen. Nichts wäre wünschenswerter, als dass die Kirche dies als Möglichkeit erkennt, soll nicht eine ausweglose Situation entstehen.
Der nun stattfindende Synodale Prozess sollte das Bewusstsein erwecken, dass ein spannender Wandel zu einer zeitgemäßen Religiosität stattfindet. Damit könnten viele, die sich abgewendet haben, am Glauben wieder Interesse finden. Hoffen wir daher, dass die von Franziskus angestoßene Entwicklung auch dann fortgesetzt wird, wenn er nicht mehr im Amt ist. Selbst wenn Beschlüsse über die Beratungsergebnisse in nächster Zeit erfahrungsgemäß nicht zu erwarten sind, ist entscheidend, dass an die Stelle bisheriger alles unterdrückender Verschlossenheit Offenheit tritt. Damit wäre sehr wohl festzustellen: „Sie bewegt sich doch!“