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Glaube und Naturwissenschaften#

Ein Diskussionsbeitrag#


Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 354/2020

Von

Heribert Franz Köck


In diesem Jahr 2020 ist in den <Gedanken zu Glaube und Zeit> bisher eine ganze Reihe von Beiträgen erschienen, in denen das Thema „Glaube und Naturwissenschaften“ vorwiegend aus der Perspektive der letzteren behandelt wurde.[1] Aus diesem Grund möchte ich ein paar Fragen aufwerfen, die sich mir bei der Lektüre dieser Beiträge gestellt haben.

Die erste Frage stellt sich für mich aufgrund des Umstandes, dass ich mir bei all diesen Beiträgen nicht sicher bin, wovon die Autoren zuerst oder zuletzt tatsächlich ausgehen. Sind es die Ergebnisse der Naturwissenschaften oder die Ergebnisse der Philosophie bzw. Theologie? Das wirdb nicht immer offen gesagt. Manchmal werden im Beitrag auch naturwissenschaftliche und philosophische Aussagen vermengt, sodass nicht klar ist, ob diese philosophischen Aussagen von einem philosophischen oder von einem naturwissenschaftlichen Ansatz her gemacht werden.

Diese Frage ist nicht so absurd, wie sie zu sein scheint. Immerhin hat Karl Rahner gesagt, dass die Materie des Geistes fähig wäre. Wenn ich diese Aussage mutatis mutandis auf meine Frage umlege, dann könnte ich vermuten, dass auch die Naturwissenschaften der Philosophie fähig seien. Aber wahrscheinlich ist Rahners Aussage hier nicht einmal mutatis mutandis anwendbar. Jedenfalls wäre ich dankbar, wenn die Autoren zu dieser Frage – Naturwissenschaften als Ausgangspunkt der Philosophie? – Stellung nehmen würden.

Auch bei einer anderen, verwandten Frage bieten die Beiträge meist keine klare Antwort, wohl deshalb, weil sie sich den Autoren erst gar nicht stellt. Was kommt zuerst: das Messen, Zählen und Wägen oder das Denken? Der Naturwissenschaftler könnte der Meinung sein, dass beides legitim sei und sich die Frage eigentlich gar nicht stelle. Denn es seien ja dieselben Menschen, die denken und experimentieren. Da hat er natürlich recht; aber meine Frage beantwortet dies leider nicht. Wahrscheinlich muss man die Frage anders stellen. Wäre es völlig ausgeschlossen, dass jemand nur misst, zählt und wägt, aber gar nicht denkt? Braucht nicht auch der Naturwissenschaftler bestimmte seinem Messen, Zähne und Wägen vorausgehende Denkakte, mit denen er seine Experimente anlegt? Und das Gleiche gilt doch auch für die Auswertung der Ergebnisse der Experimente, eine Auswertung, die ja nicht wieder auf bloß experimentellem Wege geschehen kann. Kurz, es scheint, dass das Experiment notwendig mit Denken beginnt und mit Denken endet.

Man kann die Frage auch anders herumstellen: Wäre es völlig ausgeschlossen, dass jemand nur denkt, aber gar nicht misst, zählt und wägt? Praktisch wohl nicht; denn der Mensch ist ja auch Teil der materiellen Welt und als solcher gezwungen, zu messen, zu zählen und zu wägen, um sich in ihr zurechtzufinden. Aber theoretisch? Und wie ist das bei den reinen Geistern? Müssen sie bei ihrer notwendig geistigen Tätigkeit auch messen zählen und wägen?

Nun mag der Naturwissenschaftler die Frage nach der Tätigkeit der reinen Geister als sinnlos ansehen, z.B. weil er meint, reine Geister gäbe es gar nicht. Aber er muss sich dann die Frage stellen lassen, warum er das meint. Und darauf kann ihm Messen, Zählen und Wägen allein keine Antwort gebe, weil der Geist, zumal der „reine“ Geist, nicht mit Hilfe eines Experimentes erfasst werden kann. Denn der Geist ist kein Gegenstand der Naturwissenschaften. Und wenn man ihn zu einem solchen macht – wie einige Naturwissenschaftler, die versuchen, jenes Organ im menschlichen Körpers bzw. jenen Teil im menschlichen Gehirn zu lokalisieren, wo der „Geist“ auf den „Körper“ zugreift –, dann muss man sich die Frage gefallen lassen, warum das, was naturwissenschaftlich greifbare Effekte auslöst, nicht auch selbst naturwissenschaftlich greifbar sein muss.

Mir scheint, dass diese Naturwissenschaftler den Geist nur als eine andere Art von Materie betrachten, die aber so „flüchtig“ – in einem solchen Aggregatzustand (?) – ist, dass man sie mit dem üblichen naturwissenschaftlichen Instrumentarium nicht in den Griff bekommen kann. Aber die drei klassischen Aggregatzustände (fest, flüssig und gasförmig) können das nicht sein; und die sog. nicht-klassischen Aggregatzustände (z.B. das „physikalische“ Plasma) sind ja auch naturwissenschaftlich fassbar.

Diese Missverständnisse rühren wohl daher, dass der Geist unanschaulich ist. Jedes Bild, das wir uns von ihm machen, ist nur eine (zuletzt unpassende) Analogie zu materiellen Aggregatszuständen, insbesondere zu gasförmigen.

Aus diesem Dilemma hilft uns auch nicht heraus, dass der Mensch aus Leib und Seele „besteht“, besser: beseelter Leib ist, wobei der Geist mit der Seele identifiziert werden kann, soweit man von anderen „Bereichen“ absieht, für welche die Seele auch als „zuständig“ erachtet wird (z.B. als „Lebensprinzip“, das nicht auf den Menschen begrenzt ist, sondern auch bei aller anderen organischen Natur gegeben ist – vgl. den Begriff „Tierseele“.) Deshalb spricht man auch von der menschlichen Seele als „Geistseele“. Aber das Verhältnis der Seele zum Körper ist nicht das einer „Draufgabe“, als wenn man dem Körper etwas von seiner Art hinzufügen würde (etwa eine neue „Kraft“). Die „Seele“ ist ebenso unanschaulich wie der „Geist“. Daher hätten jene Mediziner, die im 19. Jahrhundert beim Sezieren keine Seele gefunden haben, nicht enttäuscht sein müssen; denn die Seele ist wie der Geist ganz und gar unanschaulich.

Wenn aber Seele bzw. Geist unanschaulich sind, dann muss das auch für ihre Beziehung zum Körper gelten. Selbst große Theologen mussten eingestehen, dass man das Verhältnis von Leib und Seele – von Körper und Geist – nicht anschaulich machen kann. Vielleicht ist von allen Formeln, die im Laufe der Zeit geprägt worden sind, jene dem Verhältnis von Leib und Seele am nächsten, die da lautet: „anima est forma corporis“, denn sie stellt einerseits ein dem Verständnis zugängiges Verhältnis der Seele zum Leib her, bleibt aber trotzdem unanschaulich, weil man sich unter einen „bloßen“ Form nichts vorstellen kann. Vielleicht könnte man unter Seele auch das „Prinzip Mensch“ verstehen, weil es die Geistseele ist, die den Menschen von der übrigen Natur unterscheidet.

Naturwissenschaftler, welche die Existenz reiner Geister in Frage stellen oder ganz ausschließen wollen, argumentieren auch damit, dass das Universum – naturwissenschaftlich betrachtet – ein geschlossenes System sei, in dem es allein Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Formen der Materie gibt, die nach dem Kausalitätsprinzip vor sich gehen, sodass im Universum für reine Geister kein Betätigungsfeld und damit eigentlich kein Platz wäre. Die einzige Form des Geistes, die manche Naturwissenschaftler zu akzeptieren bereit sind, ist der menschliche Geist, der an der materiellen Wirklichkeit über den menschlichen Körper partizipiert; aber auch sie neigen (wie z.B. die moderne Gehirnforschung) dazu, den Geist (wie schon gezeigt) irgendwie doch den Regeln der Kausalität zu unterwerfen und ihn damit zu einem Teil jener Wirklichkeit zu machen, die den Naturwissenschaftlern über ihr naturwissenschaftliches Instrumentarium zugänglich ist oder doch irgendwann in Zukunft zugänglich sein wird.

Jene Naturwissenschaftler, welche die Fähigkeit des Menschen, sich und das Universum im Denken zu überschreiten, akzeptieren, betrachten die transzendente Wirklichkeit entweder als ein Buch mit sieben Siegeln, die – weil sie nicht anschaulich gemacht werden kann – auch keine Aussagen über sich erlaubt. (Wittgenstein: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“) Oder sie postulieren – wenn sie sich hier doch nicht mit einem metaphysischen Agnostizismus zufriedengeben wollen – ein transzendentes Wesen, das zwar auch nicht anschaulich gemacht werden kann, dem man aber alle jene Eigenschaften zuschreibt, die es braucht, damit Mensch, Gesellschaft und Welt als sinnvoll begriffen werden können. Auf diese Weise kann – je nach den Ansprüchen, die man an dieses Wesen stellt – über einen deistischen Gottesbegriff (Gott hat die Welt geschaffen, kümmert sich aber weiter nicht mehr um sie) hinaus auch noch der theistische Gottesbegriff bemüht werden. Damit sind wir freilich erst beim „Gott der Philosophen“, der auch durch den die positive Religion verspottenden Vers: „Ob Jud‘, ob Christ, ob Hottentott – glauben alle an einen Gott“, gekennzeichnet wurde. (Ich habe das Wort „einen“ kursiv gesetzt, weil hier der Akzent nicht auf „Gott“, sondern auf „einen“, d.h. „ein- und denselben“ Gott liegt.

Schwierig wird es beim christlichen Gottesbegriff – wie beim Gottesbegriff der Offenbarungsreligionen überhaupt. Die meisten Naturwissenschaftler schließen Offenbarungen grundsätzlich aus, sei es, weil es ihrer Meinung nach zur Erklärung des Universums keine Offenbarung brauche, sei es, weil das Transzendente und seine etwaigen Emanationen ohnedies nicht anschaulich gemacht werden könnten und dadurch der wissenschaftlichen Überprüfung nicht zugänglich seien. Unter „wissenschaftlicher“ Überprüfung verstehen sie selbstverständlich eine „naturwissenschaftliche“ Überprüfung.

Warum gibt es dann überhaupt noch Naturwissenschaftler, die gläubige Christen sind? Darüber maße ich mir kein Urteil an, weil Grund und Erklärung dafür wieder nur im Transzendenten gefunden werden können. („Nur Gott sieht in die Herzen der Menschen.“) Möglicherweise gelangen diese Naturwissenschaftler aber durch ihre von der praktischen Vernunft (nochmals Kant!) angestoßenen Postulate nicht bloß bis zu Gott, sondern auch bis zu Jesus Christus. Das würde etwa dann der Fall sein, wenn sie zum Schluss kämen, nur ein Leben und Sterben nach der Lehre Jesu sei ein wirklich sinnvolles Leben, was auch die Hoffnung auf Auferstehung in sich schließe. Auf dieser Weise kämen sie dann zu einer Orthopraxis, ohne sich um die von der traditionalistischen Theologie behauptete Orthodoxie zu kümmern, wo diese für ihr Leben in der Nachfolge Jesu mehr hinderlich als hilfreich wäre. Da auch das sog. „kirchliche Lehramt“ bisher dieser traditionalistischen Linie verhaftet ist (auch wenn dies nicht so sein müsste!), wägen sie auch dessen Äußerungen danach ab, ob es für ihr christliches Leben zu- oder abträglich ist.

Als Mitchristen können wir nur dankbar dafür sein, dass es solche Naturwissenschaftler gibt. Sie sind ein Ausweis dafür, dass „der Geist weht, wo er will“ (Joh 3, 8).


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