Die roten Schuhe#
Ein modernes Märchen#
Von
Herbert Kohlmaier
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit, Nr. 92/2013
Es war einmal in jenen Tagen des 3. Jahrtausends, dass eine Expedition von Außerirdischen mit ihrem Weltraumschiff auf der Erde landete. Als sich herausgestellt hatte, dass ihr Zweck ein erkundender und daher friedlicher war, nahm man diese "ET" genannten Wesen freundlich auf und erklärte ihnen gewissenhaft alles, was sie über unsere Welt wissen wollten. Das betraf natürlich jede Wissenschaft, die Ökonomie und überhaupt das Leben der Erdlinge.
Überraschender Weise interessierten sich die Ankömmlinge besonders für Glaube und Religion. Man nahm an, dass auch sie ihren Gott hätten und empfahl ihnen, sich mit Vertretern des Christentums zusammenzufinden. Wobei es zweckmäßig erschien, Würdenträger der hier vorhandenen größten Glaubengemeinschaft heranzuziehen, nämlich der weltumspannenden Römisch-katholischen Kirche. Das Gespräch wurde sorgfältig vorbereitet und sollte bei Jesus beginnen, seinem Leben und seinem Wirken, welches die ganze Welt verändert und erlöst hätte.
Doch je länger den Forschenden von der Liebe, Anspruchslosigkeit und Demut des Gottessohnes und über seinen Opfertod erzählt wurde, umso mehr zeigten sie sich verwundert und gar kopfschüttelnd. Da könne doch etwas nicht stimmen, meinten sie. Denn sie hätten ja festgestellt, dass Rücksichtslosigkeit, Besitzgier und Gewalt auf der Erde sehr verbreitet seien. Wenn man auch erfahren habe, dass es hier das Böse gäbe, sollte doch eine Nachfolgeorganisation des Gottessohnes vorhanden sein, die mit aller Kraft für die Verwirklichung der Frohbotschaft eintreten und das auch erreichen müsste!
Mit etwas Verlegenheit mussten die so Angesprochenen zugeben, dass dies keineswegs so gelungen sei, wie es sich der Herr wahrscheinlich gedacht hätte. Ganz schlimm sei leider, dass man im christlichen Glauben zerstritten wäre und dass ganz verschiedene Wege verkündet würden, das Reich Gottes zu verwirklichen. Ja, man habe sogar gegeneinander Krieg geführt, aber auch jetzt werde man sich nicht einig und finde trotz aller Bemühungen nicht zueinander. Man versuche es aber weiterhin.
Nun war Zeit für eine Kaffeepause, nach deren Ende das Gespräch auf die erwähnten Unterschiede der Konfessionen kam. Ebenso auf die betrübliche Tatsache, dass der Glaube der modernen Gesellschaft in eine Krise geraten sei. Bei der Vertiefung dieses Themas, das die Außerirdischen anscheinend sehr spannend fanden, zeigte sich allerdings wiederum eine Meinungsverschiedenheit unter den Repräsentanten der irdischen Frömmigkeit. Die Einen führten ins Treffen, dass die Leute halt auf Gott vergessen hätten, während die Anderen meinten, die Menschen kämen mit der überlieferten Kirche nicht mehr zurecht und zerstreuten sich daher in alle Winde.
Natürlich war den Glaubensvertretern peinlich, dass man so den Gästen aus dem All Uneinigkeit demonstrieren musste, aber die bohrten geradezu gnadenlos mitten in diesen schwierigen Sachverhalt. Was würde denn den Erdbewohnern nicht mehr bei der größten Kirche gefallen? So bewegte sich das Gespräch schließlich der Frage zu, ob eine Kirche mehr auf die große Zahl der Christenmenschen und deren Vorstellungen oder auf die Wenigen hören sollte, die auf ihrer Autorität beharrten. Und da schien offenbar für die Gäste aus dem weiten Universum der Kern des Problems zu liegen, von dem sie erfuhren.
Schließlich räusperte sich der Delegationsleiter der ETs und sagte, man wolle sich ja keineswegs einmischen, aber da sei etwas recht verwunderlich. Man habe ja anderswo erfahren, dass die Menschheit insofern einen großen Fortschritt geschafft habe, als man das Joch von Despoten in weiten Bereichen des Globus abgeschüttelt hätte. Wieso ließen sich die Christen also gefallen, von Leuten geführt zu werden, die sich nicht nur uneinig wären, sondern eigenmächtig auf allerlei seltsamen Vorschriften beharrten, welche dem Zweck des Glaubens gar nicht dienten? Sollte man nicht - und da wurde der Redner doch etwas heftig - auch dieses Regime in jene Abgründe verbannen, denen es offenbar entstiegen sei?
Die jetzt entstandene peinliche Situation versuchte ein anwesender Bischof zu retten. Zunächst sei das alles ehrwürdige Tradition und weiters könne eine Kirche eben nur von jemandem gelenkt werden, der dazu von Jesus eine stellvertretende Vollmacht empfangen habe. Und da müssten alle ebenso gehorchen, wie man das Jesus gegenüber verpflichtet sei. Als dies die Außerirdischen wenig überzeugte, fand ein anwesender Professor für Dogmatik den scheinbaren Ausweg: Es sei nämlich, wie er eifrig feststellte, gerade ein neuer Oberhirte ins Amt berufen worden, der ganz anders sei als jene, die bisher das Steuer in der Hand gehabt hätten!
Dabei geriet der Mann der Wissenschaft ins Schwärmen. Jetzt sei ein Mann an die Spitze gekommen, der für Armut, Bescheidenheit, Demut und Menschenfreundlichkeit eintrete. Er rede sogar mit einfachen Leuten und ließe sich nicht mehr "Heiliger Vater" nennen. Er habe alle Attribute unzeitgemäßer Macht abgelegt und verhalte sich wie ein normaler aber eben sehr frommer Mensch. Geradezu triumphierend fügte der Professor hinzu, dass er auch nicht mehr die roten Schuhe trage, mit denen sich sein Vorgänger stets gezeigt habe!
Während dieser seiner Rede tuschelten die Außerirdischen miteinander und einer tippte sich sogar mit dem Finger an den Kopf. Etwas vorlaut nahm er sich das Wort und sagte: "Also eines können wir nicht verstehen. Wenn so ein Papst, wie ihr ihn nennt, Stellvertreter eures Jesus ist, wieso tut der Eine erst so und der Nächste dann anders? Es kann doch nur eine christliche Wahrheit geben und die kann doch nicht davon abhängen, wie der, der sie gerade verkünden soll, das sieht? Wer war also wirklich von Gott bevollmächtigt - der Prachtliebende oder der Bescheidene?"
Bevor das, was man heute als "Hearing" bezeichnet, ins ganz und gar Unangenehme geriet, rettete der Vorsitzende ET die Situation und beendete das Gespräch an dieser Stelle mit einem großen Dank für die erhaltene und so aufschlussreiche Information. Man verabschiedete sich sehr höflich und ließ die Irdischen wieder allein zurück.
Unter denen breitete sich Verlegenheit aus. Ein weiterer anwesender Professor sprach aus, was alle empfanden: Man hätte eigentlich bei den so wichtigen Gästen keinen guten Eindruck hinterlassen. Denen müsste geradezu lächerlich vorkommen, dass man über das Schuhwerk rede, in dem der Nachfolger des Fischers stehe. "Und überhaupt", sagte er, "wirken wir nicht eigentlich jämmerlich, wenn wir zeigen, dass wir das Schicksal unseres Glaubens dem Gutdünken eines Menschen überlassen, auf dessen Tun und Reden wir nun wie gebannt starren? Es geht doch um die Sache Jesu und wie soll jemand verstehen, dass sie nur einem Menschen allein überlassen sein soll!"
Trotz der nun entstehenden Unruhe fügte er beharrlich und seinen Standpunkt verstärkend hinzu, dass doch alle hier Zusammengekommenen ihre Glaubensüberzeugung hätten, die sie an niemandes Gutdünken abtreten könnten, selbst wenn er ein Papst wäre. Eigentlich sei würdelos, was man den netten Leuten aus dem Weltall vor Augen geführt hätte. Statt eines Zeugnisses des gemeinsamen Christentums habe man die eigentlich sonst längst überwundene Hilflosigkeit von Unmündigen an den Tag gelegt! Schließlich wurde er richtig zornig und ging weg.
Zu Hause angekommen betrat er den Vorraum der Wohnung, wo die Schuhe der Familie standen. Sein Blick fiel auf ein rotes Paar, das seiner kleinen Tochter gehörte. Diese sah. dass er es zur Hand nahm und fragte, warum er das tue? "Ich will nur darüber nachdenken, dass wir reifer werden müssen, und dass man den Kinderschuhen irgendwann entwachsen muss." Als die Kleine etwas verständnislos dreinsah, nahm er sie hinauf zu sich und herzte sie. Da sagte das Mädchen "du bist mein lieber und einziger Papa"! Und der Theologe dachte, das sei der wichtigste und gescheiteste Satz, den er an diesem Tag gehört hätte.