DAS ELSASS-LOTHRINGISCHE PROBLEM#
1917: Seit dem Jahr 1870, oder besser gesagt seit dem Frankfurter Frieden im Jahr 1871, gibt es eine elsässische Frage. Allerdings ist es in deutschen Kreisen beharrlich geleugnet worden, dass es eine elsässische Frage gäbe. Wer aber genauer sehen kann und will, wird finden müssen, dass gerade die Schwierigkeiten, die der Lösung dieser Frage hinderlich im Wege stehen, gleichzeitig auch die größten Hindernisse des Friedensgedankens sind. Vielleicht wäre es einmal einer klugen, geschickten Diplomatie möglich gewesen, die elsässische Frage tatsächlich aus der Welt zu schaffen. Die Zeit ist aber versäumt worden und nicht entsprechend genützt worden.
Elsass-Lothringen, vor allem aber Elsass ist einmal ein deutsches Land gewesen. Und die Spuren des deutschen Volkscharakters sind noch recht lebendig geblieben, trotz der 200 Jahre, die Elsass unter französischer Herrschaft stand. Politisch aber gehörten die Sympathien des elsässischen Volkes, die Bewohner Lothringens sind fast durchwegs Franzosen, Frankreich, trotzdem das Land nach dem für Frankreich unglücklich verlaufenen deutsch-französischen Kriege von Deutschland annektiert worden war. Ungeachtet dessen, dass sich die Annexion gegen den Willen des Volkes vollzog, hätte es einer geschickten, nachgiebigen, allen unnötigen Härten und Kränkungen vermeidenden Politik gelingen können, das Volk mit seinem Schicksal auszusöhnen. Der neue deutsche Staatssekretär des Äußeren Herr von Kühlmann hat kürzlich von der Notwendigkeit gesprochen, die Psychologie der anderen, auch wenn sie zufällig Gegner sind, zu berücksichtigen. Das gerade ist von Seite der deutschen Politik dem elsässischen Volk gegenüber versäumt worden. Statt dieses Volk, welches sich erst mühsam in die neugeschaffenen Verhältnisse hineinfinden musste, mit doppelter Milde zu behandeln, ward eine Politik der „starken Hand“ installiert, die in politischen und religiösen Ausnahmsgesetzen schwelgte und dadurch gerade das Gegenteil von dem erreichte, was man erreichen wollte. Die elsässische Frage verschwand nicht aus der Politik, sondern sie wurde zur Höhe eines, wie wir es heute sehen, europäischen Kulturproblems erhoben, mit dem nun einmal wohl oder übel eine Auseinandersetzung erfolgen muss.
In Frankreich erklärt man, so oft man es hören will, dass man früher keinen Frieden wolle, bevor nicht Elsass-Lothringen wieder an Frankreich zurück gegeben sei. Die Franzosen haben sich in diesen nationalen Rauschgedanken derart verrannt und verbissen, dass sie keinen Moment daran denken, ob der erhoffte Gewinn auch noch dem Einsatz entspricht. Die Menschenopfer, die Frankreich in den verflossenen drei Kriegsjahren für den elsass-lothringischen Traum gebracht hat, sind gewiss schon so groß wie die gesamte Einwohnerschaft dieser strittigen Lande, die etwas über 1,800.000 Menschen zählt. Die Bodenfläche von 15.000 Quadratkilometer ist nur um ein Drittel geringer als der Flächeninhalt jener blühenden französischen Provinzen, die durch den Krieg verwüstet und zerstampft worden sind und einen einzigen Kirchhof der Blüte der Nation bilden. Trotz dieser unerhörten Opfer sind positive Aussichten auf eine Wiedergewinnung dieses Landes so gut wie nicht vorhanden. Darüber kann ein Zweifel kaum mehr bestehen. Mit Waffengewalt kann Frankreich sich dieses Land nicht mehr erringen, wenigstens in diesem Krieg nicht mehr. An eine freiwillige Herausgabe Elsass-Lothringens durch Deutschland ist nicht zu denken. Wenn Deutschland es beharrlich ablehnt, die elsass-lothringische Frage zum Gegenstand von Verhandlungen zu machen, so entspringt diese ablehnende Haltung keineswegs einem politischen Justamentstandpunkt, sondern in erster Linie wirtschaftlichen Erwägungen, die in der Zukunft doppelte Bedeutung für das Reich haben müssen. Elsass-Lothringen ist nicht nur allein ein schönes Land, sondern, was noch weit mehr ins Gewicht fällt, auch ein reiches Land. Schon die oberelsässische Textilindustrie ist sehr bedeutend. Ungleich wichtiger aber sind die reichen Erzlager Lothringens, deren Verlust wohl der schwerste Schlag wäre, der die deutsche Eisenindustrie treffen könnte. Dem lothringischen Erzbecken hatte es Deutschland zu verdanken, dass seine Eisenindustrie erfolgreich mit der englischen Stahl- und Eisenerzeugung auf den Weltmärkten in Wettbewerb treten konnte. Bismarck hat sich noch 1872 mit dem Gedanken getragen, Lothringen etwa im Austausch gegen Luxemburg an Frankreich zurück zu geben. Damals war der Wert dieser Erzlager, die erst durch die Einführung des Thomasverfahrens ihre goßartige Bedeutung erlangt haben, noch nicht so bekannt. Unter den heutigen Verhältnissen kann und wird Deutschland nie freiwillig in die Hergabe dieses Gebietes einwilligen können.
Diese Auffassung der Sachlage hindert aber nicht das Bestehen einer elsässischen Frage anzuerkennen, und gleichzeitig Lösungsmöglichkeiten für sie zu suchen. Tatsächlich scheinen im Schoße der Regierungen Besprechungen stattzufinden, die darauf hinauslaufen, die Grundforderungen der Bevölkerung der Reichsländer zu erfüllen, die in der Gewährung einer Autonomie und eines modernen Wahlrechtes, bei dem der tatsächliche Wille der Bevölkerung zum Ausdruck kommen kann, gipfeln.
Die Umwandlung des heute noch ganz unselbständigen Elsass-Lothringen in einen selbständigen Bundesstaat, mit einem selbständigen Herrscher, wie sie anscheinend geplant ist, könnte die Lösung der schwebenden Streitfrage ungemein erleichtern. Mit der Gewährung einer Autonomie an die Bevölkerung Elsass-Lothringen wäre nicht nur ein altes, längst fälliges Versprechen zur endlichen Einlösung gebracht, sondern zugleich auch die goldene Brücke gebaut, auf der sich Frankreich mit seinen Eroberungsplänen auf eine schickliche, keineswegs demütige Weise zurückziehen könnte. Das Problem Elsass-Lothringen ist zur Lösung reif geworden. Je schneller die Lösung erfolgt desto besser für den Weltfrieden.
QUELLE: Der Bezirksbote für den politischen Bezirk Bruck/L. 2. September 1917, Österreichische Nationalbibliothek ANNO
Zu Elsass-Lothringen heute (Wikipedia 2024)
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