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Der sprunghafte Anstieg der Informatik - Persönliche Eindrücke von 1969 bis 2018#

von Manfred Nagl, Emeritus RWTH Aachen University, nagl@cs.rwth-aachen.de

Einleitung#

Nagl
Foto: Archiv Nagl
Der Autor schaut auf fast 50 Jahre Beschäftigung mit der Informatik zurück. In diesem Zeitraum hat sich vieles verändert, in der Informatik selbst, aber auch in der Welt, in der die Informatik genutzt wird. Dies betrifft deren Stellenwert, aber auch die Breite und die Tiefe, die die Informatik in der Gesellschaft eingenommen hat. Anhand einiger persönlicher Eindrücke aus dem Lebenslauf versucht er, diese Veränderung lebendig werden zu lassen.

Studium und Siemens#

Nach dem Studium der Mathematik und Physik an der Universität Erlangen und einigen kleinen, nicht sehr ernsten Fingerübungen in der Informatik auf der Zuse Z 23 während des Studiums ging ich 1969 zu Siemens ins Forschungszentrum in Erlangen. Heute würde man sagen, um Informatik zu machen. Der Name Informatik war damals aber noch unbekannt. Die Abteilung war so etwas wie ein kleines Informatik-F&E-Zentrum mit etwa 50 Personen innerhalb des Forschungszentrums, untergebracht in einer größeren Baracke unter Kiefern. Kollegen machten Betriebssystem- oder Compilerentwicklung für einen Prozessrechner von Siemens, Graphik, Schwingungsberechnung von Brennstäben in einem Kernkraftwerk, Berechnung der Beleuchtung von Stadien, NC-Programme für Werkzeugmaschinen, Entwicklung von Software für numerische Methoden in der Mathematik usw., alles sehr bunt gemischt. Immer wenn etwas durch Programme ausgerechnet werden sollte, war die Abteilung dabei. Alle „Informatiker“ dieser Abteilung kamen aus der Mathematik, Physik oder Elektrotechnik, die Informatik-Studiengänge gab es erst später. Übrigens: Zu der Zeit gab es schon Testfahrten des Prototyps der ersten Magnetschwebebahn, dessen industrieller Nachfolger derzeit in Schanghai von der Innenstadt zum Flughafen fährt, s. Bild 1.

Meine Aufgabe war es, Software für die Visualisierung von Daten – aus Berechnungen oder aus Messungen – zu entwickeln, für funktionale Zusammenhänge mit einer oder zwei Variablen durch ein in Fortran geschriebenes Softwarepaket. Die Anwender sollten sich nicht mit en Details der Berechnung von Zwischenwerten durch Interpolationen oder Approximationen, der Auftragung der Daten, dem Ermitteln von runden Werten auf den Achsen, linearen oder logarithmischen Skalen, Hidden Lines bei Flächen etc. auseinandersetzen müssen. Für alles gab es einen passenden Prozeduraufruf. Die Ausgabe erfolgte auf einem elektronischen oder mechanischen Plotter von Ferranti, dessen Grundsoftware ein Kollege erstellt hatte. Meine Software war über 15 Jahre im Einsatz, eine lange Zeit für interne Software.

Die Informatik füllte damals kleine Schritte in einem Entwicklungsprozess aus, meist durch zwischengeschaltete Berechnungen durch Programme. Das große und verbindende Ganze machten die Entwickler. Die Informatik war am Anfang. Compiler waren fehlerhaft, die Fehler verstand man erst einige Zeit später, nachdem man sich die ersten Grundzüge des Compilerbaus angeeignet hatte. Zum Glück gab es immer jemand in der Nähe, der einen Workaround kannte, um weiter zu kommen. Die Programmierausbildung (bei mir Fortan, Algol und Assembler) hatte man sich selbst beizubringen. Die Programme wurden per Lochkartenstapel zum Rechner gebracht, die Ergebnisse – Ausgaben oder Fehlerlisten – bekam man frühestenfalls einen halben Tag später. Gerechnet wurde auf einer Siemens 4004, einem Lizenznachbau des IBM/ RCA-Rechners. Diese Umstände führten dazu, dass man sein Programm selbst sehr viel gründlicher prüfte, um oftmaliges Zurückschicken mit Fehlerlisten zu vermeiden.

Testfahrt
1 Testfahrten der ersten Magnetschwebebahn. Foto: Archiv: Nagl
Siemens Forschungszentrum
2 Das Siemensforchungszentrum heute. Foto: Archiv: Nagl

Die Aufgaben der Abteilung wuchsen, die Stimmung untereinander und der soziale Zusammenhalt waren prima, man lernte viel, ich war rundum zufrieden. Ich blicke gerne zurück in diese Anfangszeit. Derzeit hat das Forschungszentrum (s. Bild 2) wohl Tausende von Mitarbeitern, kaum einer davon wird haupt- oder nebenamtlich an der Informatik vorbeikommen.

Zurück zur Universität in die Informatik#

Prof. Händler (Bild 3) war nach Erlangen gekommen. Nach dem Besuch eines seiner Seminare, bot er mir eine Mitarbeiterstelle an. Einer seiner Mitarbeiter (Prof. Schneider, Bild 4) war an die TU Berlin berufen worden, eine DFG-Stelle wurde frei. Ich wollte mich noch einmal beweisen.

Prof. Händler hatte einen Namen in der Informatik. Der Lehrstuhl deckte die gesamte Informatik des damaligen Ausbaustands ab: Formale Sprachen, Automatentheorie, Interaktive Systeme, CUU, Programmiersprachen, Betriebssysteme, Rechnerarchitektur, Graphik, Mustererkennung, robuste Schätzungen in der Mathematik, usw. Man muss sich das heute vorstellen: ein Lehrstuhl für die gesamte Informatik. Dieser war in der neuen Technischen Fakultät im Südgelände untergebracht, zuerst in einer Baracke (Bild 5), später im gleichen Gebäude wie das Rechenzentrum.

Dann kam das 2. DV-Programm der Bundesregierung, die Informatik wurde als Studiengang an etwa 20 Standorten aufgebaut. Es gab viele Stellen und auch viel Geld für Beschaffungen und Investitionen, bei damals noch wenigen Studierenden. Es war eine paradiesische Zeit mit Gründerzeitstimmung und viel Freiraum für die persönliche Entfaltung. Bei der Besetzung von Professorenstellen hatten die Argumente der Mitarbeiter durchaus ein Gewicht. Nach Erlangen kamen damals 3 neue Lehrstühle Theorie, Programmiersprachen, Betriebssysteme in der Informatik zusätzlich zu dem bereits vorhandenen Lehrstuhl, der die Bezeichnung Rechnerarchitektur annahm. Zusätzlich gab es einen Lehrstuhl in der Wirtschaftsinformatik (angesiedelt in der WiWi-Fakultät) und einen für Technische Elektronik (angesiedelt in der Elektrotechnik-Fakultät). Ein neues Gebäude – heute das Händler-Hochhaus – wurde in Angriff genommen, in kurzer Zeit geplant und neben dem Rechenzentrum errichtet. Die Informatik hatte in Erlangen damals einen für die Zeit bereits respektablen Ausbaustand erreicht, s. Bild 6.

Händler
3 Professor Händler. Foto: Archiv: Nagl
Schneider
4 Professor Schneider. Foto: Archiv: Nagl
Unter diesen Umständen gelang es auch, Prof. Schneider 1972 wieder nach Erlangen zurückzuholen auf den Lehrstuhl für Programmiersprachen und Compiler. Das von ihm seinerzeit beantragte Forschungsprojekt bei der DFG (auf dem ich gelandet war) behandelte mehrdimensionale formale Sprachen, sein Ansatz waren die Graph-Grammatiken, er war mit A. Rosenfeld aus den USA der Erfinder dieser Disziplin. Ich hatte mich inzwischen in diesen Themenbereich eingearbeitet. Es lag somit nahe, dass ich 1973 zu ihm wechselte, um die Arbeiten fortführen zu können.

Die Arbeiten auf diesem Gebiet waren nicht ohne Erfolg , 1974 erfolgte die Promotion in der Informatik mit einer Arbeit über Graph-Grammatiken, ausschließlich mit theoretischen Ergebnissen, 1978 die Habilitation in der Informatik mit einem Buch über die Theorie eines Ansatzes für Graph-Grammatiken, aber auch bereits mit Beschreibungen von Anwendungen und ersten Versuchen zur Implementation.

Kurz darauf gab es ein weiteres Wachstum der Informatik im Südgelände der Universität Erlangen mit der Einrichtung von Lehrstühlen zu den Themen Datenbanken und Mustererkennung. Erlangen war einer der sichtbaren Informatik-Orte in Deutschland (s. Bild 6, derzeit gehören noch weitere Gebäude zur Informatik in Erlangen).

Informatik am Anfang
5 Anfang der Informtik ca. 1970. Foto: Archiv: Nagl
Informatik Erlangen 1990
6 Ausbauzustand der Informatik Erlangen 1980. Foto: Archiv: Nagl

Auch das wir eine tolle Zeit, Ein großer Dank geht an Wolfgang Händler und insbesondere an Hans-Jürgen Schneider für die vielen Freiräume, die gewährt wurden und die Unterstützung durch eine lebendige Infrastruktur, die die persönliche Entwicklung gefördert hat. Die erste Programmier-sprachentagung der GI wurde organisiert und auch der WG 78, s. Bild 7. Das soziale Klima war hervorragend, Schafkopfrunden und Tischtennis sind heute noch sehr lebendig in meinem Gedächtnis, s. Bild 8. Es gibt viele Kollegen an den damaligen Lehrstühlen Schneider und Händler, mit denen ich mich auch heute noch verbunden fühle. Wir haben wissenschaftlich durchaus etwas geschafft, ohne Rankings, Publikationsdruck durch h-Indizes und ohne Gegeneinander.

Workshop
7 Workshop auf Burg Feuerstein. Foto: Archiv: Nagl
Schneider
8 Habilitation: Die Kollegen haben sich viel Mühe gegeben. Foto: Archiv: Nagl

Zwischenstationen Koblenz und Osnabrück#

Nach der Habilitation erhielt ich einen Ruf auf eine C3-Stelle aus Koblenz, die ich im Herbst 1979 annahm. Ich versuchte auch dort, zum Aufbau der Informatik beizutragen. Es war ein schöner Platz, direkt am Rhein. Man fing an mit einem leeren Schreibtisch in einem Zimmer, das ich mit Herrn Kuhlen teilte, der später Professor in Konstanz wurde. Die Idee der praktischen Verwendung von Graph-Grammatiken wurde weiter getrieben, es entstand das Konzept einer Programmierumgebung, zu deren Entwicklung Graph-Grammatiken wesentlich beitragen sollten. Ferner begann die Beschäftigung mit Ada, einer konzeptreichen Programmiersprache. Zu den Vorlesungen gehörten auch solche in der Theorie (Logik, Berechenbarkeit). Die Informatik war damals klein, derzeit besitzt die Informatik einige Gebäude stattlicher Größe auf dem neuen Campus nördlich von Koblenz.

Bereits ein knappes Jahr später erfolgte ein Ruf auf eine C4-Stelle an der Universität Osnabrück, die ich ein halbes Jahr später im Frühjahr 1981 antrat. Auch dort begann es von vorne mit einem leeren Schreibtisch. Die Ausstattung bestand aus 2 Mitarbeiterstellen, auch hier war ein großer Beitrag zum Aufbau der Informatik gefordert, weitere Anträge bei der DFG, VW-Stiftung waren erfolgreich, AB-Maßnahmen beim Arbeitsamt sorgten für eine Sekretärin und einen techn. Angestellten, es entstand eine für die dortige Situation bereits größere Gruppe. Gregor Engels und Wilhelm Schäfer kamen aus Dortmund, Claus Lewerentz und Andy Schürr von der TU München, die meine Habilschrift gelesen hatten und interessant fanden, Bernhard Westfechtel aus Erlangen.

Das IPSEN Projekt begann zu leben, eine eng integrierte Softwareentwicklungs-Umgebung in einem a priori-Ansatz. Neue Werkzeuge sollten entstehen, die so gebaut sind, dass sie eine enge Integration erlauben, z.B. Änderung eines Programms, seine sofortige syntaktische Prüfung, seine Ausführung und seine Beobachtung durch Messung währen der Laufzeit. Oder die Architektur eines Softwaresystems wurde erstellt oder modifiziert, mit sofortiger Prüfung, ob diese gewissen Regeln entspricht und die Verfolgung der sich in anderen Bereichen (Projektorganisation, Dokumentation, Implementierung) sich möglicherweise ergebenden Konsequenzen. Im heutigen Sprachgebrauch würde man das als intelligente Werkzeuge für die agile Softwareentwicklung bezeichnen. Der Kern von IPSEN war, dass die Entwicklung dieser Werkzeuge methodisch durchdrungen werden sollte und sie mithilfe von Graph-Grammatiken spezifiziert werden sollten, um daraus den Code zu generieren. Das Projekt erregte eine gewisse Aufmerksamkeit, die Zeit war reif für die Einsicht, dass es besserer und enger integrierter Werkzeuge bedarf.

Der Wechsel der Graph-Grammatiken in die Praxis war gelungen. Einige internationale Workshops wurden organisiert. Auch aus der Situation einer nicht so reichen Universität (Koblenz, Osnabrück) kann man einiges lernen. Man gewöhnt sich daran, die Beschaffung der nötigen Ressourcen selbst in die Hand zu nehmen. In dieser Zeit gab es eine sehr enge Zusammenarbeit in der Gruppe, sowohl was die Forschung und Lehre, als auch das soziale Leben angeht, s. Bilder 9 und 10. Eine so enge Zusammenarbeit ist nur an einem kleineren Lehrstuhl möglich.

In dieser Zeit wurde die Informatik an weiteren, insbesondere auch kleineren Universitäten eingerichtet. Manchmal waren das Bindestrich-Informatiken, die später den Weg zu voll ausgebauten Informatiken nahmen.

Promotionsfeier
9 Promotionen wurden gefeiert. Foto: Archiv: Nagl
Fußballturnier
10 Fußballturnier auf dem WG83. Foto: Archiv: Nagl

RWTH Aachen#

Nach dem Wechsel 1986 auf den Lehrstuhl Informatik3 (Softwaretechnik) an der RWTH Aachen erreichte das Forschungsprojekt IPSEN eine andere Größe, s. Bild 11. Weitere Mittel waren verfügbar, auch Drittmittel. Die Querbezüge zwischen den verschiedenen Arbeitsbereichen bei der Software-Erstellung (von den Anforderungen bis zur Dokumentation) wurden systematisch untersucht und durch sog. Integratoren (in einem Bereich vollzogene Änderungen propagieren, Konsistenz untersuchen und wieder einrichten) unterstützt. Werkzeuge zum Management von Softwareprojekten, die das Problem handhaben konnten, dass sich der Entwicklungsprozess auch in der Entwicklung noch ändern konnte, rückten in unser Interesse. Schließlich begannen wir auch, uns mit den Architekturen von Entwicklungsumgebungen und der Wiederverwendung systematisch zu beschäftigen. Etliche Dissertationen entstanden und trugen zu dem Projekt bei. Ein umfangreicher LNCS-Band erschien, der alle Ergebnisse des IPSEN-Projekts zusammentrug.

Parallel dazu war ich 1988 auf Maschinenbauer der RWTH zugegangen mit dem Angebot, bzgl. der Untersuchung und des Baus von Entwurfs- und Entwicklungswerkzeugen und ihres Zusammenspiels im Maschinenbau zusammenzuarbeiten. Unsere Erfahrungen im IPSEN-Projekt waren das Lockangebot. Die Maschinenbauer waren einverstanden, erklärten uns aber ziemlich bald, dass der Neubau von Werkzeugen nicht in Frage käme. In den vorhandenen stecke zu viel Geld und Erfahrung. Somit schwenkte die Zielrichtung von der a priori-Richtung (Bau neuer Werkzeuge für die enge Integration) zu der a posteriori-Richtung (enge Integration auf der Basis bestehender Werkzeuge). Nach der Enttäuschung wurde uns aber ziemlich schnell klar, dass enge Integration mit vorhandenen Werkzeugen eine noch anspruchsvollere und ebenfalls höchst interessante Aufgabe ist. Das Beispiel, mit dem die Zusammenarbeit starten sollte, war die Entwicklung einer Bohrmaschine, die Mechanik, Pneumatik und Elektrik aufwies. Eine DFG-Forschergruppe wurde beantragt und genehmigt, 2 Lehrstühle des WZL (Eversheim, Weck) und zwei der Informatik (Nagl, Spaniol) arbeiteten sechseinhalb Jahre (90 bis Mitte 97) fruchtbar zusammen. Die Hauptergebnisse waren, dass Spezialdomänen und deren Mitarbeiter zusammenwachsen müssen, dass es neuer methodischer Ansätze hierfür bedarf, und dass die Werkzeuge insbesondere helfen müssen, die Brüche zwischen den Teildisziplinen zu überwinden.

Der Erfolg spornte uns an, die Zusammenarbeit auf der Ebene eines DFG-Sonderforschungsbereichs in noch größerem Maßstab zu vertiefen. Dabei gab es einen Wechsel des Anwendungsgebietes von der Produktionstechnik zur Chemischen Verfahrenstechnik und Kunststofftechnik (Beispiel: Chemische Anlage für Polyamide mit spezifischer Aufbereitung). Die Arbeitswissenschaften begleiteten die Forschungen aus einer weiteren Sicht. Ziel war, den Entwurfsprozess besser zu verstehen, ihn zu verbessern und ihn durch neuartige Werkzeuge zu unterstützen. Drei Lehrstühle des Maschinenbaus (Marquardt, Michaeli/ Haberstroh, Luzcak) und drei der Informatik (Jarke, Nagl, Spaniol) arbeiteten für 9 Jahre zusammen, gefolgt von einem DFG-Transferbereich für weitere 3 Jahre. Der SFB produzierte viele grundlegende Erkenntnisse über Entwurfsprozesse und Werkzeuge und transferierte diese zu ausgewählten Industriepartnern, mit denen wir kooperierten. 2008 entstand wieder eine geschlossene Zusammenfassung der Ergebnisse als LNCS-Band mit Ergebnissen aus vielen Dissertationen, später ein Sonderheft über die Ergebnisse des Transferbereichs.

Hannvoer Messe
11 IPSEN auf der Hannover Messe. Foto: Archiv: Nagl
Promotion Westfechtel
12 Promotion Westfechtel. Foto: Archiv: Nagl

Insgesamt wurden für die Forschergruppe und den SFB bzw. Transferbereich 10 Begehungen durch externe Wissenschaftler durchgeführt, die uns eine weitere Finanzierung ermöglichten. Die Projekte hatten teilweise eine für Universitäten fast unübliche Größenordnung, gemessen in Personenjahren.

Parallel zu SUKITS und SFB gab es weitere Zusammenarbeiten mit Ingenieuren durch zwei Graduiertenkollegs, die Kollege Spaniol eingeworben hatte und an denen wir beteiligt waren. Weitere Kollaborationen in anderen Ingenieurfeldern (Automatisierungstechnik, Architektur/ Bauingenieurwesen, Kommunikationstechnik, eHome, Automotive), aber auch in weiteren Feldern (Autorenunterstützung, Reengineering von Software-Anwendungen). Schließlich ergaben sich auch große Schritte in der unseren Arbeiten zugrundeliegenden Spezifikationsmethode Graph-Grammatiken und wiederum in Werkzeugen, diese zu unterstützen sowie der Entwicklung von Rahmenwerken für diese Spezifikationsumgebungen als auch für die Werkzeug-Umgebungen, die mit ihnen erzeugt wurden. Wir untersuchten Formen fortschrittlicher Wiederverwendungs-Techniken und wandten sie an.

Es ist nicht genügend Platz auf die beteiligten Personen und ihre Leistungen einzugehen. Die oben erwähnten Bücher enthalten Übersichten und ihre Beiträge.

Was lernt man aus der Verbindung zu Ingenieurwissenschaften und weiteren Disziplinen? Man lernt, die Fragen zu Entwurfs- und Entwicklungsprozessen besser zu verstehen, aufgrund dieses Verständnisses Lösungen anders und breiter anzugehen und man lernt, die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede , die sich bei der Verbesserung durch neuartige Werkzeuge in verschiedenen Disziplinen mit unterschiedlichen Ansätzen ergeben. Der Blick aus der Informatik heraus auf andere Disziplinen, aber auch die genaue Betrachtung der anderen Disziplinen, schaffen Erkenntnisse. Die Zusammenarbeit ist anstrengend, Ingenieure sind nicht zimperlich, und auch das Einarbeiten in andere Disziplinen kostet Engagement und Aufwand. Die Zusammenarbeit ist aber hochgradig lohnenswert, die Informatik ist dabei keineswegs der Mohr, der nur anderen Herren zudienen hat. Bild 13 zeigt die Vorstellung eines Projekts im SFB 476 IMPROVE im Jahre 2006, die letzte von 10 Begehungen und 14 einem Lehrstuhlausflug mit Wasserski-Wettbewerb aus dem gleichen Jahr.

SFG Begehung
13 SFB-Begehung 2006. die 10. der Begehungen. Foto: Archiv: Nagl
Ausflug
14 Lehrstuhlausflug Wasserskifahren. Foto: Archiv: Nagl

In diese Zeit von 1990 bis 2009 fällt auch eine Veränderung der Arbeitssituation für Informatiker: Waren es früher oft Arbeitsplätze in der Wissenschaft und in Softwarehäusern, die betriebswirtschaftliche Aufgaben durch Software unterstützen, so ergab sich in der obige Zeitspanne eine deutliche Verschiebung: Zuerst gab es neue Arbeitsplätze in Kommunikationsunternehmen (früher ausschließlich eine Domäne der Elektrotechniker), später in Firmen, die komplexe technische Produkte herstellen, in denen Software eine immer größere Rolle spielt. Ein Beispiel hierfür ist die Automobilwirtschaft.

In diese Zeit fällt auch ein dramatischer Ausbau der Informatik in Aachen und auch andernorts: Ein Stellenschub kam über das Möllemann-Programm, es gab Zuwächse wegen der Steigerung der Bedeutung der Informatik für die technischen Fächer, allgemeiner für alle Fächer innerhalb der Universität. Die Informatik war auch eine Grundlagendisziplin für andere Fächer geworden. Die Anzahl der Professuren hat sich in dieser Zeit etwa um den Faktor 4 erhöht (s. Bild 15 für 1992), desgleichen die Zahl der Studierenden und die Zahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter, wobei in Aachen drei Viertel über Drittmittel eingeworben werden. Am Anfang war die Informatik auf einige kleine Gebäude in der Stadt verstreut, heute hat sie ein stattliche Bleibe, s. Bild 16. Dabei sind einige weitere Gebäude nicht einmal aufgeführt.

Die Internationalität hat deutlich zugenommen, festzustellen an der Zahl internationaler Studierender in internationalen Master-Studiengängen, an dem Prozentsatz der auf Englisch geschriebenen Doktorarbeiten (etwa 80%) und an den Institutionen im Ausland, an denen wir Lehre anbieten (Bangkok, Oman). Auch die Aufwände für die Administration, die akademische Selbstverwaltung, die Bemühungen um das Netzwerk innerhalb der Universität und in der Wissenschaft und zur Industrie haben deutlich zugenommen. Große Forschungsvorhaben (Exzellenz-Initiative, ERC-Grants, und die addierte Summe der Drittmitteleinnahmen) spielen eine bedeutsame Rolle.

Informtikprofessoren 1992
15 Informatik Professoren 1992, heute sind es 31. Foto: Archiv: Nagl
Informatikgebäude
16 Informatik bau, teilweise weitere Gebäude. Foto: Archiv: Nagl

Der Zuwachs hat also seinen Preis. Ähnlich ist es bei den Leistungsbewertungen von Fakultäten, Universitäten oder einzelnen Wissenschaftlern in Forschung oder Lehre. Auch diese verursachen einen Zusatzaufwand. Mit der Evaluation auf vielen Gebieten einher geht auch ein Trend, der unerfreulich ist. Der gesamte Blick wird verengt, auf die Dinge, die zählen. Aktivitäten, deren Aufwände und Ergebnisse nicht zählen, werden ungern oder nicht mehr ausgeübt. Die Exzellenzbewertungen schaffen beispielsweise mehr äußere Sichtbarkeit, gehen mit dem Vorteil für einige Universitäten und den Nachteilen für andere einher.

Fazit: Die Informatik hat in der Zeit 1990 bis jetzt einen riesigen Schub erfahren, Die Breite der Informatik hat deutlich zugenommen. Die Tiefe der Informatik hat sich in einer Auffächerung durch Teildisziplinen manifestiert. Der Zusammenhang zwischen den Teilgebieten und das Bemühen um Gemeinsamkeiten haben m.E. abgenommen. Sichtbarkeit und Qualitätslabels spielen eine viel größere Rolle als früher. Für den Ausbau musste an unterschiedlichen Orten mit mehr oder weniger Energie gekämpft werden, es gibt in der Finanzierung der Wissenschaft ein deutliches Süd-Nord-Gefälle in Deutschland.

Ich danke allen meiner ehemaligen Mitarbeitern, die zu den obigen Erfolgen maßgeblich beigetragen haben. Sie haben dabei auch eine Reifung ihrer Persönlichkeit erfahren. Alle sind erfolgreich, viele sind sehr erfolgreich, als Professoren oder in leitender Stellung in der Industrie. Aus Platzgründen kann ich darauf nicht genauer eingehen. Auch die Diplomanden, Bachelor- oder Masterarbeiter haben mit ihren Arbeiten, meist innerhalb von Promotionsvorhaben ihrer Betreuer, zum Erfolg beigetragen.

Wissenschaftspolitik#

Der Fakultätentag Informatik ist in Deutschland das Gremium, das die Interessen der Informatik-Fakultäten an Universitäten in Forschung und Lehre vertritt, manchmal mit Unterstützung durch die Gesellschaft für Informatik oder Industrieverbände aus der Informatik (BITKom, BITMi). Dieses Gremium wurde 2005 durch die Bologna-Initiative der Europäischen Union aufgescheucht. Die Gefahr zeichnete sich ab, dass Kurzstudiengänge (Bachelors) die bisherigen Diplom-Studiengänge ablösen und dass die wissenschaftliche Tiefe der Studiengänge durch Anwendungserfahrung ersetzt werden sollte.

Das führte 2006 zur Gründung des Zusammenschlusses 4ING, einer Vereinigung der Fakultätentage der Gebiete Maschinenbau, Elektrotechnik, Bauingenieurwesen und Informatik in Deutschland. Alle waren durch die Gefahren der Bologna-Reform wachgerüttelt worden, die Einschätzung der obigen Disziplinen bzgl. drohender Gefahren war gleich. Es begann ein zäher Kampf gegen einige der Bestrebungen, der letztlich die großen Gefahren abwenden konnte. Diese waren (a) dass der normale Abgang nach dem Bachelor erfolgen sollte und (b) dass die Studienqualität durch Vermeidung von Tiefe und Grundierung am Studienanfang verloren geht. Beide Gefahren sind abgewendet: Der Großteil der Studierenden macht nach dem Bachelor für den Master weiter, die Studienorganisation setzt nach wie vor auf Fundierung, insb. am Anfang des Studiums durch theoretische Grundlagen. Neben kleineren Schwächen, die möglicherweise auch ohne Bologna gekommen wären, blieb nur das Gefühl einer gewissen Ungeschicktheit zurück, nämlich die Ersetzung einer Qualitätsmarke „Diplom“ durch zwei nichtsagende, weil international keineswegs klar definierte Labels „Bachelor“ und „Master“.

In die gleiche Zeit fiel die Gründung von Informatics Europe, eine Art europäischer Fakultätentag Informatik. Europa wächst zusammen – was einhellig zu begrüßen ist – und infolgedessen wuchs auch das Bedürfnis der Fakultäten der Informatik, sich bezüglich Lehre und Forschung abzustimmen. Bei allen wissenschaftspolitischen Veränderungen sollte die spezifische Sicht des Faches im Vordergrund stehen, insb. bei der Evaluation der Forschung oder der Akkreditierung von Studiengängen. Informatics Europe arbeitet mit EQANIE zusammen, eine Art fachbezogene Akkreditierungsagentur für Informatik-Studiengänge in Europa.

Auch die nationalen Informatik-Personengesellschaften haben es schwer. Mitgliedschaft einerseits und freiwillige Aktivitäten der Mitglieder können nicht mehr als selbstverständlich erwartet werden, es muss verstärkt für die Mitgliedschaft geworben werden und die Mitglieder müssen auch den Nutzen erkennen. Die Gesellschaft für Informatik in Deutschland hat hier nach wie vor einigen Handlungsbedarf. Ähnlich sieht es in den anderen europäischen Ländern aus. In Deutschland ist das Bewusstsein gewachsen, dass ein Fach auch politisch sichtbar sein muss. Auch in Europa rücken wir näher zusammen. Alle Maßnahmen zur Vereinheitlichung und Stärkung müssen aber fachbezogen und sinnvoll sein. Insbesondere dürfen keine Stärken geschwächt werden, wie dies bei Vereinheitlichungen gerne geschieht. Alle obigen Organisationen haben mich persönlich in der oben angegebenen Zeit einige Energie gekostet. Die Zusammenarbeit mit vielen Kollegen, die sich den gleichen Zielen verschrieben haben, war eine große Freude. Der gemeinsame Aufwand hat sich gelohnt, weil Gefahren eingedämmt werden konnten und weil der Zusammenhalt in den jeweiligen Organisationen gestärkt werden konnte, national und europaweit. Es besteht aber weiterhin überall Handlungsbedarf.

Blick zurück und nach vorne#

Die Studierendenzahlen sind in den letzten knapp 50 Jahren dramatisch gestiegen. Dennoch sucht die Industrie nach wie vor händeringend nach Informatikern. Die Informatik-Fakultäten haben entsprechend zugenommen, um diesen Ausbildungsberg zu meistern. Die Forschung hat sich, von ehemals Theorie-dominiert, auch in verschiedenste praktische Zweige aufgeteilt. Breite und Tiefe haben in der Forschung, aber auch in der Lehre, deutlich zugenommen. Die Informatik strahlt heute nahezu in alle Wissenschaftsgebiete aus. Viele Bindestrich-Gebiete sind entstanden. In allen Disziplinen werden Informatik-Werkzeuge (Hard- und Software, Modellierung und Werkzeuge hierfür) genutzt. Besonders stark sind die Verbindungen der Informatik zu den Ingenieurfächern, den Naturwissenschaften und den Wirtschaftswissenschaften. Die oben beschriebene Entwicklung konnte ich in meinem Arbeitsleben mitverfolgen. Seit 2009 versuche ich als Emeritus meinen Beitrag zur weiteren Entwicklung zu leisten. Ein Emeritus kann dabei unabhängig von allen Zwängen agieren, z.B. in der Forschung. Er ist nicht auf die üblichen Mechanismen zum weiteren Fortkommen angewiesen und kann das tun, was ihn interessiert. Diese Freiheit spiegelt mein neues Forschungsthema „Gotik und Informatik“ wider. Anbei zwei Abbildungen in den Bildern 17 und 18, die die Kathedrale von Reims perspektivisch zeigen.

Kathedrale Reims
17 Als solider Baukörper. Foto: Archiv: Nagl
Kathedrale Reims
18 Aus CAD Einheiten zusammengesetzt. Foto: Archiv: Nagl