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Leibniz-Zentrum für Informatik in Schloss Dagstuhl – einige Geschichtssplitter#

Von Reinhard Wilhelm, August 2017

Einleitung#

Wilhelm
Reinhard Wilhelm. Leiter von der Gründung bis 2014. Foto: Presse Dagstuhle
Mehr als 25 Jahre gibt es das frühere Internationale Begegnungs- und Forschungszentrum für Informatik und jetzige Leibniz-Zentrum für Informatik in Schloss Dagstuhl schon.

Es hat sich international als die Begegnungsstätte der Informatikforscher etabliert und zieht Forscher aus aller Welt an.

Es ist inzwischen drei Mal mit exzellenten Ergebnissen evaluiert und mehrfach kopiert worden. Man kann es sich schlicht aus der Welt der Informatik nicht mehr weg denken.

Wie entstand die Idee, solch ein Zentrum zu gründen, warum landete dieses in Schloss Dagstuhl im nördlichen Saarland, und wie lief die Gründung ab?

Ich versuche, Antworten auf diese Fragen zu geben, wie sie meine Erinnerungen hergeben.

Der Hintergrund#

Im mittleren Schwarzwald liegt das 1944 gegründete Mathematische Forschungsinstitut Oberwolfach, eine weltberühmte Begegnungsstätte für Mathematiker.

Dort trafen sich seit etlichen Jahren auch die theoretischen Informatiker zu jeweils eine Woche dauernden Tagungen.

Weil diese Tagungen außerordentlich reiche wissenschaftliche Früchte trugen, kam die Idee auf, ein Institut mit einem ähnlichen Konzept auch für die Informatik zu gründen.

Die Gesellschaft für Informatik setzte eine Suchkommission ein.

Damit begann seine Geschichte.

Ich war am Entstehen nicht unbeteiligt und habe meine Erinnerungen in den folgenden Splittern aufgeschrieben.

Schloss Dagstuhl#

Die Herrschaft Dagstuhl hatte eine sehr wechselhafte Geschichte, in welcher ein Trierer Fürstbischof, die französischen Revolutionstruppen und ab 1807 die Familie de Lasalle von Louisenthal eine Rolle spielten.

Der letzte in Schloss Dagstuhl lebende de Lasalle hatte bei einem Flugzugabsturz im Ersten Weltkrieg einen Dachschaden davon getragen, welcher sich in charakterlicher Instabilität äußerte. So gefiel es ihm am Ende des Zweiten Weltkriegs gar nicht, dass das Oberkommando der Westfront im Schloss saß.

Deswegen steckte er eigenhändig das Schloss an. Es verwundert nicht, dass zu seiner Zeit das Schloss ziemlich verwahrloste. 1959 verschwand de Lasalle schließlich im Merziger psychiatrischen Landeskrankenhaus.

1961 übernahmen dann die Franziskanerinnen von der allerseligsten Jungfrau Maria von den Engeln aus Waldbreitbach das Schloss, mit dem Plan, dort ein Altersheim zu betreiben. Dieser Orden, der sich der Krankenpflege und der Sozialarbeit widmet, betreibt ungefähr so viele Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime wie die Leibniz-Gemeinschaft Institute hat, also etwas mehr als 80. Der Versuch, in Schloss Dagstuhl ein Altersheim zu betreiben, scheiterte allerdings, vermutlich, weil die Senioren nicht soweit ab vom Schuss leben wollten.

Bei der Renovierung des Schlosses waren die Nonnen allerdings von der allerseligsten Jungfrau Maria und allen Engeln verlassen worden. Sie hatten einen Architekten aus dem Nordsaarland beauftragt, der dabei seine Vision von einem Schloss realisiert hatte. Die Kritik an seinen stilistisch zweifelhaften und teuren Renovierungen hat ihn zutiefst verbittert.

Als das Saarland das Schloss kaufte und für den Betrieb als Informatik-Zentrum umbaute, gab der damalige Landeskonservator Peter Lüth, der mit Entsetzen die von seinem Vorgänger genehmigten Renovierungen betrachtet hatte, uns den Rat, „Behutsam zurück bauen!“, was wir dann auch getreulich befolgt haben.

Dagstuhl
Dagstuhl heute. Panorama. Foto: Presse Dagstuhle

Standortsuche und Gründer#

Etwa zu dem Zeitpunkt Ende der achtziger Jahre, als die Franziskanerinnen den Altersheimplan für Schloss Dagstuhl aufgegeben hatten, suchte eine Suchkommission der Gesellschaft für Informatik (GI) einen Standort für ein Begegnungszentrum für Informatik.

Der Zufall#

Dann kam, wie häufig in dieser Geschichte, der Zufall ins Spiel. Der Vorsitzende der Kommission, GI-Präsident und Informatik-Forschungschef bei Siemens Heinz Schwärtzel, stammte aus dem nördlichen Saarland. Er erfuhr von seiner Mutter, dass Schloss Dagstuhl zu Verkauf stand.

Die damalige Landesregierung unter Oskar Lafontaine war in Aufbruchsstimmung, und Informatik spielte in ihren Plänen für die Zukunft des Saarlandes eine wichtige Rolle. An der immer unterfinanzierten Universität des Saarlandes hatte sich eine kleine, aber starke Informatik entwickelt. Das führte dazu, dass das erste Max-Planck-Institut für Informatik in Saarbrücken angesiedelt wurde. Etwa zur gleichen Zeit gründeten Rheinland-Pfalz und das Saarland unter die Mithilfe eines Bundeskanzlers aus der Pfalz das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. Ein Informatik-Begegnungszentrum im nördlichen Saarland wurde als eine willkommene Abrundung betrachtet.

Es half, dass der Standort im Wahlkreis des Finanzministers Hans Kaspar lag. Dieser Wahlkreis wiederum grenzte an den Wahlkreis des damaligen rheinland-pfälzischen Finanzministers und späteren Ministerpräsidenten Carl-Ludwig Wagner. Da konnte man gemeinsame Gründungspläne leicht bei einer Tasse Kaffee im Hochwald besprechen.

Es gelang, Rheinland-Pfalz als Mitgründer und Träger zu gewinnen. Der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine überzeugte auch seinen baden-württembergischen Kollegen Lothar Späth, bei der Gründung und Förderung mit zu machen. Die drei Bundesländer bestimmten neben dem Mehrheitsgesellschafter Gesellschaft für Informatik die folgenden Universitäten als Gesellschafter der zu gründenden GmbH, die Universität des Saarlandes und die Universitäten in Kaiserslautern und Karlsruhe.

Dagstuhel
Dagstuhl aus der Luft 2015. Foto: Presse Dagstuhl
Leider wechselte in Baden-Württemberg die Regierung, und ein neuer Finanzminister, dem der Fußball stärker am Herzen lag als die Wissenschaft, strich den Haushaltsposten, Kofinanzierung des Internationalen Begegnungs- und Forschungszentrum für Informatik in Schloss Dagstuhl, aus dem Haushaltsentwurf. Das Saarland übernahm den für Baden-Württemberg vorgesehenen Anteil an der Förderung.

Die saarländische Landesregierung bot also der GI Schloss Dagstuhl als Sitz des Informatikzentrums an.

Die Suchkommission besichtigte Schloss Dagstuhl und einige weitere Objekte in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz und empfahl Schloss Dagstuhl als Sitz des Zentrums.

Der Wissenschaftsrat schloss sich dieser Empfehlung an.

An dieser Stelle muss man sich vorstellen, was passiert wäre, wenn die Verhandlungen nur ein halbes Jahr später, also im Jahr 1990 stattgefunden hätten. Sicher hätte man ein hochinteressantes historisches Gemäuer in einem der fünf Beitrittsländer gefunden.

Unter dem Gesichtspunkt der regionalen Förderung wäre das Zentrum sicher dort gelandet.

Die Gründungsphase verlief also in einem sehr engen Zeitfenster!

Nach der Empfehlung von Schloss Dagstuhl als einem Oberwolfach für Informatik kaufte das Saarland 1989 das Schloss und Grundstücke in seiner unmittelbaren Umgebung.

Schlosskapelle
Schloss Kapelle. Foto: Presse Dagstuhl
Die Verhandlungen mit den Franziskanerinnen führte die graue Eminenz des Finanzministers, ein Mann mit einer erstaunlichen Folge von zivilen, kriminellen und politischen Karrieren.

Als er zur entscheidenden Verhandlung in Dagstuhl vorfuhr, lagen die Nonnen schon gespannt hinter den Gardinen.

Sie waren tief gerührt, dass er erst in der Kapelle verschwand, um, wie sie vermuteten, für den Erfolg der Verhandlungen zu beten.

Tatsächlich fand er nichts dabei, in der spätbarocken Umgebung der Kapelle eine Zigarette zu rauchen.

Das Konzept#

Nachdem der Standort Schloss Dagstuhl gefunden worden war, wurden Verhandlungen über die Gründung einer Träger-GmbH zwischen der Gesellschaft für Informatik, dem Mehrheitsgesellschafter, und den drei Gründeruniversitäten, Universität des Saarlandes, Universität Kaiserslautern und Universität Karlsruhe aufgenommen. Die Verhandlungen waren nicht ganz einfach, weil beide Seiten verschiedene Ziele hatten. Die universitären Verhandler strebten eine auf maximale Kommunikation optimierte, eher spartanisch eingerichtete Begegnungsstätte an; die GI-Verhandler stellten sich Managerweiterbildung in nobler Umgebung vor. Symbolisiert wurde das immer wieder an der Frage, ob auf jedem Zimmer ein Fernseher stehen sollte!

Für die universitären Verhandler stand er für die Vereinzelung der Teilnehmer und eine Störung der Kommunikation, für die industriellen Verhandler stellte er einen unverzichtbaren Teil der Komfortinfrastruktur dar. Man war sich über das Konzept einfach nicht einig. Trotzdem gründete man im Frühjahr 1990 optimistisch die Internationales Begegnungs- und Forschungszentrum für Informatik GmbH.

Für mich als Gründungsdirektor und Anhänger der spartanischen kein-Fernseher-Richtung bedeutete die Uneinigkeit über das Konzept, dass ich mir nicht sicher war, wie lange ich diese Aufgabe wahrnehmen dürfte.

Vorbild Oberwolfach#

Was wir realisieren wollten, war vorbildlich durch das Mathematische Forschungsinstitut in Oberwolfach (MFO) vorgegeben, eine Stätte optimaler Kommunikation zwischen Wissenschaftlern. Das MFO hatte dazu einige Mechanismen gefunden, die sich leicht kopieren ließen: Versammlung der besten Forscher eines Gebiets plus vielversprechender Nachwuchs, eine vollkommen freie Zeitgestaltung, also nicht das typische 25-Minuten-Vortrag + 5-Minuten-Diskussion-Schema üblicher Konferenzen, eher mehr Zeit für Diskussionen und auch viele Räume für die Diskussion in kleineren Gruppen.

Ein Konzept für Rechnerzugang konnten wir nicht vom MFO kopieren. Dort gab es einen PC, der am Internet hing. Es war von Anfang an klar, dass Informatiker Rechnerzugang brauchten. Die Workstations wurden von uns in Rechnerräumen konzentriert, um der Vereinzelung entgegen zu wirken. Tatsächlich wurden die Rechnerräume Orte intensiver Kommunikation, bis trauriger weise die Ära des Laptops unsere Einflussmöglichkeiten beendeten.

Speisesaal
Weisser Saal. Foto: Presse Dagstuhl
Die bei allen Hauptmahlzeiten wechselnde, zufällig bestimmte Sitzordnung wurde auch von Oberwolfach übernommen. Sie soll möglichst alle Teilnehmer im Laufe der Woche miteinander ins Gespräch bringen. Ebenfalls der Weinkeller für die wichtigen abendlichen Diskussionen, die Wanderung oder der Ausflug als Zäsur am Mittwochnachmittag und auch der Saal zum Musizieren.

Diese sozialen Aktivitäten sind kommunikationsfördernd und für viele ein Teil der Dagstuhl-Erfahrung.

Wolfgang Lorenz und ich bekamen wertvolle Hinweise vom langjährigen Direktor des MFO, Martin Barner. Wir besuchten ihn, bevor wir unsere Arbeit aufnahmen. Er warnte uns insbesondere davor, Erbhöfe entstehen zu lassen, d.h. Serien von Tagungen mit immer denselben Leitern, die weiter laufen, obwohl sie bei der begrenzten Kapazität eigentlich besser motivierten Tagungen Platz machen sollten. Als Erbhöfe verstand Barner aber nicht nur Wochen, die regelmäßig bestimmten Themen zugesagt waren, sondern die immer wieder gleiche Leitung von Tagungen. Eine der Folgen des fehlenden Wechsels an der Spitze war mangelnder Austausch bei der Teilnehmerschaft. Das Motto dieser langen Serien könnte lauten, „Old chaps meet.“

Wir beherzigten Barners Rat und übernahmen von Anfang an stärker die Kontrolle über unsere Veranstaltungen, die wir Dagstuhl-Seminare nannten. Organisatorenteams mussten sich bei Wiederholung des Themas erneuern, zumindest teilweise; eine gewisse Kontinuität war durchaus erwünscht. Diese Regel wurde von manchen Oberwolfach-erfahrenen Kollegen nur mit Murren akzeptiert.

Die vorgeschlagenen Teilnehmerlisten wurden begutachtet und oft Modifikationen verlangt. Das ging manchmal so weit, dass das Direktorium einem Seminar, welches eine sehr homogene Gruppe zu einem durchaus umstrittenen Thema versammeln wollte, einige „Störenfriede“ verordnete mit der expliziten Aufgabe, die Basisannahmen der Gruppe zu hinterfragen. Die Reaktionen darauf waren fast immer positiv.

Ein typischer Fehler, gerade jüngerer Antragsteller, war und ist, dass sie ihre Teilnehmerliste veredeln wollen, indem sie sämtliche Gurus des Seminar- und angrenzender Gebiete auflisten. Die Erfahrung sagt allerdings, dass ein echter Guru schon deshalb nicht teilnehmen kann, weil er jede Woche ein Kamingespräch mit dem/der Bundeskanzler/in, ein Treffen mit dem/der Bundesforschungsminister/in, zwei Projektbegutachtungen und mehrere Kooperationstreffen mit der Industrie hat und darum bedauerlicherweise verhindert ist. Deshalb sah das wissenschaftliche Direktorium diese Veredelungen eher kritisch.

Musik
Musik und Kunst sind Teil von Schloss Dagstuhl. Foto: Presse Dagstuhl
Musik
Tag der Kinder. Foto: Presse Dagstuhl
Musik
Robo Cup! Foto: Presse Dagstuhl

Unsere Verantwortung für die Teilnehmerlisten hat einen entlastenden Effekt auf die Organisatoren; es entledigt sie der Verpflichtung, nicht mehr aktive Kollegen einzuladen, denen gegenüber sie vielleicht persönliche Verpflichtungen haben. Dagstuhl, das wissenschaftliche Direktorium und schließlich der wissenschaftliche Direktor haben ein breites Kreuz und überleben giftige Reaktionen (zu Recht) nicht eingeladener Kollegen leichter als ein Organisator, der irgendwann zu unpassender Zeit eine Rechnung präsentiert bekommt.

Ganz schlimm wurde ich attackiert, als unverschämter weise der (wissenschaftlich aktive) Assistent eines bekannten (nicht (mehr) wissenschaftlich aktiven) Kollegen, aber nicht der Kollege selbst eingeladen wurde. Er wünschte Dagstuhl eine finstere Zukunft an den Hals.

Die Suche nach Personal#

Erster Direktor#

Wie wurde ich denn überhaupt der erste Direktor?

Nach dem Vollzug der Gründung fragte man sich, wer denn jetzt das Zentrum aufbauen und leiten sollte. Einig war man sich, dass es ein Professor der Informatik an der Universität des Saarlandes sein sollte. Das reduzierte die Zahl der Kandidaten; denn die Fachrichtung Informatik war damals noch sehr klein. Außerdem baute Kurt Mehlhorn, einer der Professoren, gerade das Max-Planck-Institut für Informatik auf, und Wolfgang Wahlster, ein anderer Kollege, das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz.

Bibliothek
Der Bibliotheksturm. Foto: Presse Dagstuhl
Man schaute erwartungsvoll auf mich. Ich hielt mich für unfähig, so etwas zu machen angesichts meiner sauerländischen, also ziemlich dürftigen diplomatischen Grundausstattung. Die Vorstellung, den erwarteten übergroßen Egos unter den Gästen verbindlich oder sogar freundlich gegenüber treten zu müssen, jagte mir Schauer über den Rücken.

Nach gutem Zureden durch meine Frau, die meine Bedenken nicht teilte, stimmte ich zu, erster wissenschaftlicher Direktor des Zentrums zu werden. Die technisch-administrative Leitung übernahm Wolfgang Lorenz, der Leiter des Präsidialbüros der Universität des Saarlandes. Obwohl wir beide unterschiedliche fachliche Hintergründe hatten, tickten wir offensichtlich sehr ähnlich und kamen bei allen zu entscheidenden Fragen immer sehr schnell zum Konsens.

Aufbau#

Im April 1990 begannen wir mit dem Aufbau, beschlossen Umbaumaßnahmen, wählten Möbel aus und, am Wichtigsten, stellten Personal ein.

Wir hatten dabei im Großen und Ganzen ein glückliches Händchen vielleicht, weil wir systematisch Empfehlungen aus den saarländischen Ministerien ignorierten. Wie wichtig für den Erfolg des Zentrums Personen waren, möchte ich an zwei Beispielen schildern.

Garen
Garten. Foto: Presse Dagstuhl
Angelika Müller übernahm die Leitung der Dagstuhl-Geschäftsstelle.

Ihr Engagement für die Sache, ihr Gespür für den richtigen Umgang mit den Gästen und ihre technische Kompetenz im Aufbau der Infrastruktur sind Legende.

Josefine Schneider wurde für die Verwaltung und den Empfang eingestellt. Wenn die Gäste am Sonntag Nachmittag von ihr herzlich willkommen geheißen wurden, spürten sie, dass ihre Herzlichkeit echt war. Frau Schneider strahlte das glaubwürdig aus. Außerdem verfügte sie über eine Fähigkeit, die mich, ausgestattet mit einem chronisch schlechten Personengedächtnis, blass vor Neid werden ließ. Sie sah jeden Sonntagnachmittag zum Empfang etwa 40 Leute zum ersten Mal in ihrem Leben. Wenn am Montag Morgen ein Anruf für Gast X kam, dann ging sie zielstrebig auf diesen zu und holte ihn ans Telefon; sie hatte tatsächlich alle Namen-Gesicht-Verbindungen gespeichert!

Verpflegung#

Eine wichtige Entscheidung war, ob man unter sehr beengten Bedingungen in einer Art Teeküche selbst kochen sollte, oder ob man das Essen anliefern lassen sollte. Damals führte noch nicht wie heute jeder dritte Saarländer einen Cateringbetrieb. Der einzige lokale Lieferant wäre die Küche des Krankenhauses in Wadern gewesen. Wer jemals seinen Hintern in ein Krankenhausbett gelegt hat, kennt die Qualität des Krankenhausessens. Wer zusätzlich die Angst unserer amerikanischen Freunde vor jeder Art von Keimen kennt, kann sich leicht vorstellen, wie die Information über die Herkunft des Essens auf diese gewirkt hätte. Also war die Entscheidung klar; es wurde selbst gekocht, und zwar von Anfang an auf saarländische Art wunderbar.

Bibliothek
Bibliothek. Foto: Presse Dagstuhl
Nicht nur kam der Geschäftsbetrieb sehr schnell in Gang, sondern es entstand der inzwischen weltweit gerühmte Geist von Schloss Dagstuhl. Der besteht darin, dass weitgehend unsichtbare Geister dafür sorgen, dass es den Teilnehmern an den Forschungsseminaren in Schloss Dagstuhl an nichts fehlt, was für eine erfolgreiche Arbeit notwendig ist. Außerdem hatten wir von Anfang an Mitarbeiter, die mitdachten und wussten, worauf es ankam. Dazu erzähle ich immer gern eine Anekdote.

An einem der ersten Dagstuhl-Seminare nahm ein bekannter Informatiker aus New York teil. Auf dem Anmeldeschreiben hatte er nicht angegeben, dass er Diabetiker war, obwohl Dagstuhl explizit nach Diätwünschen fragt. Beim Zimmermachen am ersten Tag fand unser Personal seine Diabetikermedikamente.

Beim nächsten Essen stand eine Diabetikermahlzeit vor ihm. Er saß davor und konnte nicht glauben, was er sah, und rief zu Tränen gerührt seine Kollegen zusammen, um ihnen zu zeigen, wie man sich in Schloss Dagstuhl um das Wohlergehen der Gäste kümmerte.

Die Erzählung von diesem Ereignis ging wie ein Lauffeuer um die Informatikerwelt. Wenn ich heute zurück schaue, scheint mir dieser gute Geist von Dagstuhl einen entscheidenden Beitrag für den Erfolg geleistet zu haben und immer noch zu leisten.

Botschaften an die Gäste#

Wir lernten schnell, wie wichtig Botschaften an die Gäste sind. Zum Beispiel haben die Gäste in Schloss Dagstuhl keine Schlüssel für ihre Zimmer. Das führte bei Gästen z.B. aus New York, die sich zuhause nur sicher fühlen, wenn ihre heimischen Türen mit mehreren Riegeln und Bolzen verbarrikadiert sind, zur Verunsicherung. Aber alle verstanden sehr schnell die Botschaft, nämlich dass alle Gäste einander vertrauen sollten. Tatsächlich gab es niemals Probleme mit Diebstählen. Ein anderer Vertrauensbeweis an die Gäste war die abendliche Versorgung mit Getränken. Es gab und gibt offene Regale und Kühltheken, aus denen man sich die Getränke nimmt. Seinen Konsum notiert man auf einem Laufzettel, den man beim Empfang bekommt und beim Abschied zur Abrechnung abgibt. Kollegen aus südeuropäischen Ländern haben mir immer wieder versichert, dass das bei ihnen nie funktionieren würde. Aber sieh an, es klappt bis heute wunderbar! Eine weitere sehr wichtige Botschaft war, dass man nie zeigen sollte, dass man zu viel Geld hat. Das Bewusstsein der beschränkten Mittel beschränkt auch die Erwartungen. Die Einrichtung wurde deshalb schön und zweckmäßig, aber nicht prächtig gewählt. Das enttäuschte den vom zuständigen Regierungsvertreter – zuständig für die sparsame Haushaltsführung - ausgesuchten Möbellieferanten sehr. Er hatte doch schon sein teuerstes Programm für uns ausgesucht, weil „es doch um die internationale Spitzenklasse geht“. Ich beschied ihm, dass das schon der Fall wäre, aber bei der Wissenschaft und nicht bei den Möbeln.

Mentalitäten und Konflikte#

Verabschiedung#

Bei meiner Verabschiedung im Jahr 2014 bezeichnete mich der damalige Aufsichtsratsvorsitzende Stefan Jähnichen als sauerländischen Sturkopf. Das kann man ja als Beleidigung, als korrekte Beschreibung oder als Kompliment auffassen. Stefan Jähnichen konnte sich nicht so recht zwischen der zweiten und der dritten Alternative entscheiden. Unabhängig von der Antwort fand ich diesen Teil meines Charakters anfänglich als eher schlecht zur Jobbeschreibung eines wissenschaftlichen Direktors passend.

Tatsächlich führte er führte immer mal wieder zu interessanten Konflikten.

Man muss sich den Beginn der 90er Jahre im Saarland mit einer gewissen Aufbruchstimmung vorstellen. Nicht nur das Internationale Begegnungs- und Forschungszentrum für Informatik in Schloss Dagstuhl wurde im Saarland gegründet sondern auch das erste Max-Planck-Institut für Informatik und das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. So viel Aufbruch gab es nicht sehr häufig im Saarland!

Als wir unseren Betrieb aufnahmen, sah die saarländische Politik große Chancen für die Förderung der lokalen Wirtschaft. Der lokale Supermarkt legte einen Wein auf, Marke Schloss Dagstuhl, der Tabakhändler wollte einen Automaten aufhängen.

Mein Einwand, solche Maßnahmen würden auf eine Interessensverquickung hindeuten, stieß bei den Politikern auf Unverständnis und wurde nur murrend akzeptiert. Bei der Möblierung des Schlosses stieß ich auf interessante Usancen der Baubranche, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Meinem Mitgeschäftsführer und mir wurden edle und teure Möbel zur Anschaffung empfohlen, wobei offenkundig schon Absprachen über den Lieferanten getroffen waren. Wir wählten dann zweckmäßige, schöne und solide Möbel aus, die auch 25 Jahre später ästhetisch und funktional befriedigen. Dass wir nicht „edlere“ Möbel auswählten stieß nicht überall auf Verständnis.

Mir war klar, dass ich mit den übergroßen Egos mancher Kollegen schlecht umgehen können würde. Deshalb hielt ich mich auch eigentlich für ungeeignet für die Leitung. Allerdings löste sich dieses Problem auf für mich überraschende Weise; ich stellte mit Erstaunen fest, dass durch den Erfolg und die allgemeine Wertschätzung Dagstuhls mir eine Autorität zuwuchs, die Diskussionen, auch mit den größten Egos sehr vereinfachten.

Kunst
Kunst. Und Bibliothek von außen. Foto: Presse Dagstuhl

Kunst#

Der größte Konflikt entstand über die Kunst. Inzwischen hat sich Schloss Dagstuhl im Saarland ja als eine gute Adresse für Ausstellungen etabliert. Der Erstkontakt mit der Kunst war aber eher schmerzlich. Als das Schloss um einen Neubau erweitert wurde, wurde ein „Kunst am Bau“-Verfahren angestoßen. Als Mitglied der Jury saß ich, zusammen mit dem Architekten des Neubaus staunend in der Jurysitzung. Wir beide mussten erfahren, wie wenig Architekt und Nutzervertreter ernst genommen wurden, besonders, wenn sie die bereits „gut vorbereiteten“ Entscheidungen gar nicht gut finden konnten. Der „Tatort“ des Wettbewerbs in diesem Verfahren war das neu gebaute Restaurant, ein äußerst kommunikativer Ort, wie jeder bestätigen kann, der einmal als Gast in Leibniz-Zentrum für Informatik gewesen ist. Dieser sollte in dem Verfahren mit visuellen und akustischen Animationen „möbliert“ werden. Das ließ massive Störungen der Kommunikation befürchten. Die Jury ließ sich von mir nicht von der Schädigung des Raums abhalten und stimmte mehrheitlich für einen pubertären Scherz mit sehr kurzer Halbwertzeit. Dieser Vorschlag wurde allerdings vom Minister zurück gewiesen, und in der Folge verwies der Landeskunstbeirat den Kunstetat an den Bauetat zurück. Damit standen wir mit leeren Wänden da.

Um die leeren Wände zu füllen ließ ich mir eine Methode einfallen, die Dankbarkeit unserer Gäste gegenüber Schloss Dagstuhl für das Spenden von Kunstwerken auszunutzen. Ich wählte Arbeiten aus, die wir erwerben wollten, teilte ihren Preis in Anteile handlicher Größe auf und bat anschließend unsere Freunde und Gäste auf einer Webseite, uns Anteile an diesen Werken zu spenden. Da die ausnutzbare Dankbarkeit gegenüber Schloss Dagstuhl groß war und ist, kam über die Jahre eine quantitativ und qualitativ ansehnliche Kunstsammlung zusammen. Bei größeren Anschaffungen, wie z.B. der Skulpturen von Sigrún Olafsdottir halfen zudem die Landeszentralbank Rheinland-Pfalz-Saarland (Hans-Jürgen Koebnick) und SaarToto (Kurt Bohr).

Rechnerausstattung#

Einen weiteren harten Konflikt gab es über die Rechnerausstattung des Zentrums. Als wir das Konzept dafür diskutierten, hörten wir das Gerücht, dass IBM und Siemens zwei Millionen DM für die Rechnerausstattung zur Verfügung stellen wollten. Es stellte sich aber heraus, dass die angebotenen Gerätschaften für unsere Zwecke ungeeignet waren, was man nicht hinnehmen wollte. Als ich aus dem Urlaub zurückkam, fand ich zwei fast gleich lautende Briefe von IBM und Siemens vor, in denen sie mir mitteilten, dass sie „angesichts der geänderten Konzeption von Schloss Dagstuhl und der Herausforderungen in den Beitrittsländern“ außerstande sähen, irgend etwas für das Zentrum zu spenden.

Ich wurde zum Staatssekretär im saarländischen Wissenschaftsministerium zitiert, dem ich erklären sollte, wo wir jetzt diese verlorenen zwei Millionen DM herkriegen sollten. Der Staatssekretär, Rüdiger Pernice, verstand aber schnell die Situation und war offen für eine sachgerechte und zusätzlich kostengünstige Lösung des Rechnerausstattungsproblems. Überhaupt war Rüdiger Pernice, wie auch Kurt Mehlhorn, mein Hauptratgeber, in schwierigen Situationen immer wieder eine große Hilfe.

Die oben erwähnten unterschiedlichen Zielsetzungen der GI und der universitären Seite klärten sich recht einfach; nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass das von Oberwolfach überkommene Konzept erfolgreich war. Flugs erklärte sich die GI zur Mutter des Erfolges, und alle Probleme waren beseitigt.

Nach Wilhelm #

(Nachbemerkung von Hermann Maurer)

Seidel
Seidel. Foto: Presse Dagstuhl
Heute wird Dagstuhl von Raimund Seidel, der usprünglich aus Österreich kommt, geleitet.

Er begann zunächst seine Laufbahn als sehr erfolgreicher Forscher in der Theorie der Informatik.

Er setzte seine Erfolge im Management der Universität des Saarlandes fort.

Nun bewährt er sich auch als neuer Chef von Dagstuhl.

Waren es 2103 unglaubliche

Trotz höchster Qualitätsansprüche an Anträge auf Seminare ist Dagstuhl immer voll ausgebucht!