Die vergessene Avantgarde#
Österreichs experimentelle Fotografie erlebte um 1930 eine kurze Blüte. Erst heute wird diese spannende Epoche wiederentdeckt. Zum Vorschein kommen hervorragende Bildkünstler - und wenig bekannte Meisterwerke.#
Von der Wiener Zeitung (Samstag, 27. 10. 2012) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Anton Holzer
War da etwas? Fotografische Avantgarde in Österreich? Nie gehört! Wenn man der gängigen Meinung Glauben schenkt, war das radikal Neue in der Fotografie, historisch gesehen, stets im Ausland beheimatet: in Berlin, Paris, Prag, New York, Moskau. Aber nicht bei uns.
Allerdings: Bei genauerem Hinsehen erweist sich diese herkömmliche Einschätzung als falsch. Denn es gab um 1930 sehr wohl eine spannende österreichische Szene moderner, experimenteller Fotografie. Doch ihre Protagonisten und ihre Arbeiten sind seither gründlich in Vergessenheit geraten. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Ächtung im Ständestaat#
Die konservative Wende, die auf den kurzen Aufbruch folgte, hat die Avantgarde verschüttet. Spätestens im Ständestaat ist die Moderne zum roten Tuch geworden, und im Nationalsozialismus wurden ihre Vertreter offen verfolgt. Viele Foto-Avantgardisten bewegten sich im Umkreis der Wiener Sozialdemokratie oder waren jüdischer Herkunft. Im Ständestaat und im Nationalsozialismus waren sie daher der Ächtung und Verfolgung ausgesetzt. Andere zogen sich angesichts der widrigen politischen Bedingungen ins Privatleben zurück. Nach 1945 knüpfte kaum jemand an die ästhetischen Experimente der Zwischenkriegszeit an, sie wurden jahrzehntelang vergessen.
Erst in den letzten Jahren macht sich ein neues Interesse an dieser spannenden Epoche der österreichischen Fotoentwicklung bemerkbar. Die turbulenten Jahre um 1930 werden allmählich in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit wiederentdeckt. Ein Grund dafür dürfte auch sein, dass die Fotografie ein besonders guter Gradmesser für die gesellschaftliche Ambivalenz dieser Epoche ist. Es ist hoch an der Zeit, die kurze Blüte der österreichischen Avantgarde zu rehabilitieren, zu erforschen und öffentlich zu präsentieren.
Dabei können veritable Entdeckungen gemacht werden. Zum Vorschein kommen nicht nur einige kaum oder gar nicht bekannte Meisterwerke der österreichischen Fotografie, sondern auch interessante Lebensgeschichten von Fotografen und Förderern der Avantgarde, die längst in Vergessenheit geraten sind.
Manifest der Moderne#
Als am 20. Februar 1930 im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie an der Ringstraße (heute MAK) die Ausstellung "Film und Foto" eröffnet wurde, war das ein großes Ereignis. Die Schau, die ein Jahr zuvor in Stuttgart konzipiert wurde, galt als Manifest der modernen Fotografie und sorgte für ein enormes Medienecho. Der Österreichische Werkbund, der die Ausstellung nach Wien geholt hatte, sah sie als deutliches kulturpolitisches Signal für die moderne Fotografie.
Neben den Stars, die bereits in Deutschland zu sehen waren (wie etwa El Lissitzky, Alexander Rodtschenko, John Heartfield, Hannah Höch, Helmar Lerski, Germaine Krull, László Moholy Nagy, Man Ray, Aenne Biermann oder André Kertesz) wurde in Österreich auch eine zusätzliche Abteilung mit dreizehn einheimischen Fotografen gezeigt.
Neben einigen wenigen Vertretern des "Neuen Sehens" bzw. der "Neuen Sachlichkeit" (etwa Richard Träger, Willy Riethof, Hans Cechal und Franz Mayer) waren in der österreichischen Abteilung eine ganze Reihe von Arbeiten zu sehen, die wohl am besten mit dem Begriff der "gemäßigten Moderne" zu umschreiben sind (Trude Fleischmann, Trude Geiringer/Dora Horowitz, Grete Kolliner, Hertha Müller, Ilona Kiss, Otto Skall u.a.). Aber auch traditionelle kunstfotografische Studien (etwa von Maximilian Karnitschnigg) waren zu sehen.
Heftige Flügelkämpfe#
Diese breite Auswahl, die von idealisierenden Genreszenen bis hin zu neusachlichen Objektstudien reicht, zeigt vor allem eines: Die Vertreter des österreichischen Werkbunds wollten und konnten sich nicht eindeutig für die Avantgarde entscheiden. Zu disparat waren innerhalb des Werkbunds die ideologischen und ästhetischen Auffassungen. Heftige Flügelkämpfe verhinderten um 1930 einen Konsens. Insgesamt setzten sich eindeutig die gemäßigt Modernen gegenüber den radikalen Neuerern durch.
Dennoch: Allen Kompromissen zum Trotz wurde die Ausstellung in der liberalen und linken Presse als Meilenstein für die moderne Fotografie gefeiert. "Es ist", schrieb der Kritiker Wolfgang Born, "eine neue Art des graphischen Ausdruckes, der sehr herb, mit den komplizierten Ornamenten der Wirklichkeit, seine Flächen organisiert. Der nach oben gerückte Horizont, wie er bei der Draufsicht entsteht, spielt eine große Rolle. Die Verschiebungen der Perspektive ergeben die Sensation eines erregenden Raumerlebnisses, Schatten und Licht sind die Träger des Rhythmus. Unversehens kommt eine Übersetzung der Wirklichkeit zustande, die durchaus künstlerisch ist."
Auch die Kritikerin Alma Stefanie Frischauer begrüßte die Bilder der Avantgardisten, insbesondere die Aufnahmen im Stil der Neuen Sachlichkeit. "Der moderne Fotograf nennt Sachlichkeit sein oberstes Prinzip. Die absichtlich unscharfe oder gar künstlich gestellte Aufnahme hat aufgehört zu existieren: das Lichtbild soll keine zierende Dekoration, sondern ehrliches Dokument sein. (. . .) In der Enthüllung, die keine Verschleierung und nur Präzision kennt, liegt der Wert dieser neuen Fotos. Sie entdecken die Wirklichkeit und bringen durch die Schärfe ihrer Objektive, durch kühne Licht- und Schattenkombinationen, durch unerwartete Verkürzungen und Perspektiven den Alltag erneut zum Bewußtsein."
Wer sind diese beiden Kritiker, die die neue Fotografie in Wien so stürmisch begrüßten? Sie haben einiges gemeinsam. Wolfgang Born, geboren 1893 in Breslau, und Alma Stefanie Frischauer, 1899 in Lemberg als Alma Stefanie Wittlin auf die Welt gekommen, waren in den Wirren des Ersten Weltkriegs nach Wien gekommen. Nach ihrem Studium schlossen sich die beiden jungen Kunsthistoriker nicht in den akademischen Elfenbeinturm ein, sondern arbeiteten als Journalisten und Kritiker. Sie berichteten über die moderne Fotografie, aber auch über andere Entwicklungen der Kunst und des Kunstgewerbes.
Mitte der 1930er Jahre verstummten sie plötzlich. Warum wohl? Die moderne Kunst, die sie propagierten, geriet zunehmend in die Defensive, ihre Arbeit als Kritiker wurde im austrofaschistischen Ständestaat immer schwieriger. Beide waren erklärte Gegner des diktatorischen Regimes. Zudem waren sie jüdischer Herkunft und daher dem in den 1930er Jahren zunehmenden Antisemitismus ausgesetzt. Um diesem einengenden, repressiven, antisemitischen Klima zu entgehen, entschlossen sich die beiden, das Land zu verlassen. 1937 emigrierten sie - getrennt voneinander - in die USA. Zu diesem Zeitpunkt waren die letzten Ausläufer der Wiener Avantgarde längst erstickt.
Es ist gewiss ein Zufall, dass zwei der profiliertesten Fotografen der Wiener Moderne wenige Jahre nach der Ausstellung "Film und Foto" selbst zu Tode kamen. Und doch werfen ihre tragischen Schicksale auch einen kulturpolitischen Schatten voraus. Das Zeitfenster, in dem die moderne Fotografie öffentliche Anerkennung fand, war äußerst schmal. Es öffnete sich um 1927 und schloss sich wieder 1931/32. Danach war lediglich ein schwacher Nachhall zu vernehmen. Einer der beiden Fotografen, der Schweizer Martin Imboden, hatte die Ausstellung "Film und Foto" bereits in Stuttgart gesehen. Im selben Jahr ließ er sich in Wien nieder. Er entwickelte - beeinflusst von der Neuen Sachlichkeit - ein modernes Konzept des Porträts, das die Gesichter (meist von Frauen) in ungewohnt engen, frontal aufgenommenen Bildausschnitten zeigt. Im Sommer 1935 starb er an den Folgen eines Fahrradunfalls in der Schweiz. Auch der Wiener Fotograf Richard Träger, der ursprünglich aus der Tradition der Arbeiterfotografie kam, schloss sich ab Mitte der 1920er Jahre der Neuen Sachlichkeit an. Seine Arbeiten, die bisher praktisch unbekannt geblieben sind, gehören zu den interessantesten Beiträgen der Wiener fotografischen Moderne um 1930. Auch er starb in jungen Jahren: Er kam Ende 1933 bei einem Unfall ums Leben.
Gewagte Diagonalen#
Wenn man die Fotoarbeiten der modernen österreichischen Fotografie dieser Jahre überblickt, wird deutlich, dass die radikalen Neuerer und entschiedenen Avantgardisten in der Minderheit waren. Je nach Themenstellung, Anlass und Auftrag vereinten viele Vertreter der zeitgenössischen Fotografie moderne und traditionelle Elemente. Dies gilt für die Atelierfotografen ebenso wie für die Pressefotografen; es gilt aber auch für die Amateure, die noch am ehesten zu experimentellen Lösungen griffen.
Zu den Lichtbildnern, die vorwiegend außerhalb des Ateliers arbeiteten und der modernen Fotografie gegenüber aufgeschlossen waren, gehörten in diesen Jahren Franz Senkinc, Sepp Nowak, Ferdinand Hodek, Josef Schramek, Otto Exinger, Franz Spreng, Otto Weber, Willy Eggarter, Willy Riethof, Rudolf Spiegel, Kurt Husnik, Hans Grabkovicz, Otto Dobrowolny, Oskar Kuhn, Hans Madensky, Annie Schulz, Lotte Meitner-Graf, Otto Skall, Robert Haas, Nikolaus Schwarz, Hans Casparius, Edith Suschitzky, Franz Mayer, Walther Schneider, Felix Braun, Laszlo Willinger, Albert Karplus und Ernst Kassowitz.
In ihren Fotoreportagen, Sach- und Werbeaufnahmen oder in ihren Stillleben sind immer wieder Bezüge zur Neuen Sachlichkeit und zum Neuen Sehen erkennbar. Manche von ihnen rücken extrem nahe an das Objekt heran, nehmen es frontal oder aus ungewöhnlichen Perspektiven (Vogelperspektive, Untersicht) auf; sie experimentieren mit gewagten Diagonalen, Ausschnitten, verwenden Überblendungen und andere experimentelle Bild- und Kameratechniken. Daneben aber entstehen oft auch konventionelle Aufnahmen.
Zwar war Wien in den späten 1920er Jahren keine Hochburg der Avantgarde, aber unter der sozialdemokratischen Stadtregierung etablierte sich dennoch ein offenes, neugieriges kulturelles Klima. Alle möglichen progressiven Kulturprojekte wurden importiert und diskutiert. Man beschäftigte sich etwa mit der Kunst-, Theater- und Fotoszene der jungen revolutionären Sowjetunion. Im März 1928 wurde in den Räumen des Wiener Hagenbundes eine "Sowjetrussische Ausstellung" gezeigt.
Ende der 1920er Jahre wurden in Wien zahlreiche sogenannte "Russenfilme" gezeigt, und auch die Filmavantgarde der Weimarer Republik fand hier ihr Publikum. 1927 etwa hatte, fast zeitgleich wie in Berlin, Walther Ruttmanns Film "Berlin - Die Symphonie der Großstadt" Wien-Premiere. Anregungen kamen auch aus der Tschechoslowakei. 1928 fand in Brünn eine umfassende Ausstellung für zeitgenössische Kultur statt, die in Österreich auf großes Interesse stieß.
Das Ende der fotografischen Avantgarde kam rasch. Es ging einher mit einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch. Die politische Polarisierung zwischen Links und Rechts, der beginnende Machtverlust der Sozialdemokraten, die einsetzende Wirtschaftskrise und schließlich das diktatorische Regime der Austrofaschisten - all das hat zum Ende der Avantgarde beigetragen. Spätestens 1932/33 hatten die konservativen Vertreter innerhalb der österreichischen Fotoszene das Zepter wieder fest in der Hand.
Einer ihrer Wortführer war der Grazer Maximilian Ritter von Karnitschnigg. 1931 wetterte er unter dem bezeichnenden Titel "Modische Sachlichkeit" gegen die neuen Tendenzen in der Fotografie. Er kritisierte die "Exzesse im neuzeitlichen Sinne" und verwehrte sich gegen die "Verlockungen ex-tremer Sachlichkeit". Offen nahm er gegen die Ausstellung "Film und Foto" Stellung: "Daß die Wanderausstellung ‚Film und Photo‘ fast durchwegs Propagandamaterial äußersten Modernismus bringt, ist wohl begreiflich, daß aber viele Amateure, deren innere Einstellung eigentlich dezidiert konservativ ist, einem gewissen Snobismus nachgebend, auch diese Mode mitmachen zu müssen glauben, ist bedauerlich."
"Blöd wie Jazzmusik"#
Ihm zur Seite standen zahlreiche weitere Fotografen, Publizisten und Fotofunktionäre, die in teils aggressiver Weise gegen die neue Fotografie ankämpften. Heinrich Kühn etwa, der Altmeister der konservativen österreichischen Kunstfotografie, geißelte kurz nach der Wiener "Film und Foto"-Ausstellung die "umstürzlerische Tendenz" der "modernen Sachfotografie". Die neuerdings oft eingesetzte Fotomontage erinnere ihn "manchmal zynisch an das Brutale, Aufreizende und doch wieder Blöde einer Jazzmusik".
Besonders nachhaltig und konsequent wurde die Avantgardefotografie in den meisten Fachjournalen verdammt, die sich an die Fotoamateure richteten. In der Zeitschrift "Der Lichtbildner" etwa zog der Fotopublizist und Amateurfotograf Hans Hannau, der zugleich ein hoher Vertreter des Ständestaats war, regelmäßig gegen die moderne Fotografie zu Felde. Es ist bezeichnend, dass ebendieser Hannau wenig später zu einem publizistischen Wegbereiter der österreichischen Heimatfotografie wurde.
Dieser Strang innerhalb der österreichischen Fotografie hat sich, verglichen mit jener der Moderne, als weitaus langlebiger erwiesen und zwar bis in die Gegenwart. Unser populäres Bildrepertoire knüpft immer wieder an die Tradition der Heimatfotografie in der Zwischenkriegszeit an. Viele Künstler der Avantgarde hingegen kennt heute niemand mehr.
Anton Holzer
lebt als Fotohistoriker, Publizist und Herausgeber der Zeitschrift "Fotogeschichte" in Wien.
Vor kurzem erschien die Neuauflage seines Buches "Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg" (Primus Verlag, Darmstadt).